Planstadt Eisenhüttenstadt

Andreas Ludwig

An der Autobahn, kurz vor Frankfurt (Oder), verweist ein offizielles touristisches Hinweisschild auf die »Planstadt Eisenhüttenstadt«. Diese allgemeine Bezeichnung ist zugleich zutreffend wie irreführend. Mit ›Planstädten‹ sind all jene Städte gemeint, die nicht nach den örtlichen Gegebenheiten und der Summe von kleinteiligen Entwicklungsmöglichkeiten gewachsen sind, sondern solche, die nach einem vorgegebenen Plan angelegt wurden. Das Spektrum reicht von antiken Stadtgründungen zu barocken Residenzstädten, von Festungsstädten zu New Towns, Company Towns und Regierungszentren. Unter dem Begriff der ›Planstadt‹ würde man also eher Karlsruhe, Washington D.C. oder Bataville vermuten. Dennoch ist das allgemeine Entwicklungsmuster einer Planstadt nicht ausreichend zum Verständnis des Ortes. Eisenhüttenstadt, so ließe sich knapp charakterisieren, ist eine wirtschaftspolitisch begründete und ideologisch konnotierte ›Stadt am Werk‹ und symbolisiert damit eine historisch, wirtschafts- und gesellschaftspolitisch eingebettete Stadtneugründung, deren wechselnde Zuschreibungen als Erinnerungsort zugleich exemplarisch eine politische Geschichte der vergangenen siebzig Jahre in sich tragen.

Eisenhüttenstadt ist der Ort, an dem die DDR zeigen wollte, wie der Mensch im Sozialismus einmal würde leben können. Die industrielle Gründungsstadt im Osten Brandenburgs mit heute 27.000 Einwohnern verdankt ihre Existenz der Gründung eines industriellen Großbetriebs, dem Eisenhüttenkombinat Ost (EKO), und damit frühen wirtschaftlichen Schwerpunktsetzungen der DDR im Kalten Krieg. Hier entstand ab 1950/51 die erste Stadtneugründung in Deutschland nach 1945 und mit ihr ein gebautes Zeichen von den Gesellschaftsvorstellungen in der frühen DDR. Sie waren immer auch Gegenstand von Projektionen, eine Art gebaute Utopie, ebenso wie von frühzeitiger Historisierung. Eisenhüttenstadt ist somit ein Ort, an dem sich vierzig Jahre DDR-Geschichte in ihrer realen Entwicklung ebenso wie in ihrer Selbstinterpretation ablesen lassen. Diese ehemals herausgehobene Position hat die Stadt auch nach 1990 begleitet, ablesbar in den Folgen eines Bedeutungsverlustes wie auch in einer kritischen Wiederaneignung ihrer Geschichte.

Die erste Phase dieser vielschichtigen Real-, Symbol- und Erinnerungsgeschichte beginnt mit dem III. Parteitag der SED, auf dem im Juli 1950 der Bau eines Eisenhüttenkombinats beschlossen wurde, um den Mangel an Roheisen und Stahl in der DDR auszugleichen und die Abhängigkeit von Importen zu mindern. Dieser Beschluss, unmittelbare Folge des Kalten Krieges und der damit verbundenen Spaltung der Wirtschaftsgebiete, war Ausgangspunkt des Aufbaus einer eigenen Schwerindustrie in der DDR, der den ersten 5-Jahrplan 1951 bis 1955 prägte.

Mit der Errichtung der Baustelle wurde unmittelbar begonnen.1 Bis 1953 sollte ein integriertes Stahlwerk errichtet werden, jedoch verzögerte sich die Realisierung aller Kernbestandteile bis 1994, nicht zuletzt bedingt durch die Reduzierung der Investitionen in die Schwerindustrie im »Neuen Kurs« vom Juni 1953 und die anhaltende Investitionsschwäche der DDR. Immerhin wurden sechs Hochöfen als »Aufbauprojekt Nummer 1« im Rahmen des ersten 5-Jahrplans bis 1955 fertig gestellt, und nach anfänglichen Schwierigkeiten lieferte das EKO zu Beginn der sechziger Jahre mehr als die Hälfte des in der DDR benötigten Rohstahls.

Dieses erste große Industrieprojekt der DDR sollte inmitten einer wirtschaftlich wenig entwickelten, dünn besiedelten, abgelegenen Grenzregion zwischen Brandenburg und der Lausitz realisiert werden, und obwohl die Stadt durch die Bahnlinie Berlin-Breslau, den Oder-Spree-Kanal und eines auf Zwangsarbeit beruhenden, in den frühen 1940er Jahren entstandenen Rüstungskomplexes über Ansätze einer infrastrukturellen Anbindung verfügte, galt der Ort als peripher – eine märkische Kleinstadt abseits der Entwicklungskerne. Dennoch hoffte man, die Bau- und Industriearbeiter regional rekrutieren zu können, und in der Tat kamen gerade die Arbeitskräfte der ersten Monate aus den umliegenden Dörfern und Kleinstädten, zu einem großen Teil Flüchtlinge aus den angrenzenden, nun zu Polen gehörigen Gebieten, die seit ihrer Ankunft in zumeist dürftigen Verhältnissen lebten. Indes reichte dieses Reservoir nicht aus, so dass landesweit Arbeitskräfte geworben wurden, 1952 die örtliche Glashütte geschlossen und ein Haftarbeitslager eingerichtet wurde, das bis 1961 bestand.2

Eisenhüttenstadt entwickelte sich zu einem gigantischen Mobilisierungsprojekt, das vor allem während der fünfziger Jahre für Tausende ein Leben in provisorischen Verhältnissen bedeutete. Ende August 1950 betrug die Zahl der Arbeiter auf der Baustelle etwa 400, im Juni 1952 waren es 13.000. Für sie wurden 1950 bis 1952 drei Barackenlager errichtet, die teilweise bis in die sechziger Jahre bestanden. Mit der gemeinsamen Planung von Stadt und Werk folgte man dem sowjetischen Industrialisierungsmodell, das mit der Gründung von Magnitogorsk 1929 auf industriellen Großkomplexen mit angeschlossener Wohnstadt beruhte. Dieses Modell wurde nach 1945 in mehreren osteuropäischen Staaten übernommen, und es entstanden bereits vor der Gründung von Eisenhüttenstadt Nowa Huta in Polen, Dunaujváros in Ungarn oder Dimitroffgrad in Bulgarien, deren großindustrielle Kerne und politische Mobilisierungsverfahren, aber auch deren architektonische Ausgestaltung in den 1950er Jahren sich ähnelten.

Für Eisenhüttenstadt wurde nach diesem Muster eine eigenständige Wohnstadt mit allen als wesentlich erachteten urbanen Funktionen geplant. Planungsgrundlage wurden die »16 Grundsätze des Städtebaus« vom Juli 1950,3 die unter anderem die Stadt als eigenständige Siedlungsform und die Industrie als ›Städtegründer‹ festschrieben sowie das Ideal einer kompakten, funktionalen, gegliederten und binnendifferenzierten Stadt ausformuliert wurde (Abb. 1).4 Ein retrospektiver Blick lässt die Stadt als »letzter Monolith«5 in einer Kette von Stadtneugründungen erscheinen, zu denen in der DDR noch Hoyerswerda, Schwedt und Halle-Neustadt zählen.

Die Heroisierung der Aufbaujahre

Den Aufbau Eisenhüttenstadts begleiteten ideologische Klärungsprozesse um das äußere Bild der Stadt und den einer sozialistischen Stadt angemessenen architektonischen Stil. Ab 1952 wurde der Neoklassizismus als Architektur der »Nationalen Tradition« durchgesetzt. Zu dieser Ideologisierung der Stadtgestalt6 kam ein genereller Politikwechsel infolge der Zweiten Parteikonferenz der SED im Juli 1952, auf der der ›Aufbau des Sozialismus‹ proklamiert wurde und in deren Folge die »Wohnstadt bei Fürstenberg« oder »Wohnstadt des EKO« nun als »Erste sozialistische Stadt Deutschlands« erklärt wurde. Diese ideologische Aufladung wurde noch einmal gesteigert, indem die Wohnstadt im Mai 1953 in Stalinstadt, das Eisenhüttenkombinat Ost in Eisenhüttenkombinat J. W. Stalin umbenannt wurde. Stadt und Werk, damals noch weitgehend eine Großbaustelle, wurden damit als Orientierungspunkte in der ideologischen Hierarchie der DDR markiert und damit zugleich Zukunfts- wie Erinnerungsort.

Eine zentrale Rolle spielte Eisenhüttenstadt auch in der Kunst als Ort des Versuchs, einen Sozialistischen Realismus umzusetzen. Der Berliner Maler und Grafiker Oskar Nerlinger erhielt Ende 1951 den staatlichen Auftrag für die Ausführung eines Monumentalgemäldes über den Aufbau des Eisenhüttenkombinats Ost. Nerlinger, der vor 1933 durch seine kapitalismuskritischen, im Stil des Konstruktivismus gehaltenen Arbeiten über die Versklavung des Menschen durch die Maschine bekannt geworden war, sollte in der spätstalinistischen DDR einem dienlichen Realismus Ausdruck verleihen, und es spricht für die politische Bedeutung Eisenhüttenstadts in diesen Jahren, dass der Schauplatz dafür hier, im Eisenhüttenkombinat Ost gewählt wurde.7 Nerlinger mietete 1952 eine Wohnung in der Neuen Stadt, fotografierte, fertigte Skizzen an. Zwei Ausstellungen der Vorarbeiten, eine davon in der Kulturhalle des Eisenhüttenkombinats, dienten der ›helfenden Kritik der Werktätigen‹ als wesentlichem Bestandteil der »vorbildlichen künstlerischen und gesellschaftlich verantwortungsvollen Arbeitsweise«, wie die Bezirkskulturkommission der SED lobend erwähnte.8 Das in Auftrag gegebene Ölbild »Ofenabstich« sollte das Hauptwerk der III. Deutschen Kunstausstellung 1953 in Dresden werden. Dazu kam es aber nicht, so dass schließlich Otto Nagels »Junger Maurer von der Stalinallee« zur Ikone des Aufbaubildes wurde.

Zahlreiche Presseberichte begleiteten den Aufbau Eisenhüttenstadts in den frühen fünfziger Jahren, und die meisten verknüpften das Projekt direkt mit dem Aufbau des Sozialismus in der DDR. Die Hochöfner waren als Sinnbild des schwerindustriellen Kerns der Arbeiterklasse ikonographisches Zentrum von Berichten über das Eisenhüttenkombinat und die Neue Stadt in den fünfziger Jahren.9 Sie dienten aber auch der historischen Legendenbildung. Am 17. Juni 1953 hatten die Hochöfner gegen den Willen der streikenden Stalinstädter Bauarbeiter ihre Öfen am Laufen gehalten, und dieses produktionstechnisch motivierte Handeln wurde zum politischen umdefiniert. Es wurde die Legende vom ›roten Hochöfner‹ formuliert.10 Dadurch wurde ein politischer Erinnerungsort geschaffen, der den Kurs der Nachkriegsrekonstruktion in der frühen DDR symbolisierte.

In den Denkschablonen des Kalten Krieges, zugleich aber in deutlicher Irritation ob der Fremdheit vermittelnden Besuchserfahrung wurde in einer westdeutschen Illustrierten über Eisenhüttenstadt berichtet: »Dennoch – ich habe das beklemmende Gefühl, hier in einem fremden Land zu sein: massige Häuserblocks im sowjetischen Stil, die eher Regierungsgebäuden oder Versicherungspalästen als Wohnstätten gleichen. Sie sind hell und großräumig, aber wie eintönig! 500 Häuser, genormt, eines wie das andere, keine Stadt mit ›eigenem Gesicht‹. Und die Menschen, die stolz in ihnen wohnen? Beginnt hier die große Umwandlung der Einzelwesen in ›Kollektiv-Glieder‹, etwas, wogegen sich die westliche Freiheits-Idee wehrt, wovon der Osten aber das Heil erwartet?«11

Dieser bis zum Befremden reichenden Distanziertheit des westdeutschen Beobachters steht die teilnehmende Empathie gegenüber, mit der Karl Mundstock in seinem Roman »Helle Nächte« die Baustelle in Eisenhüttenstadt beschrieben hat. Mundstock war im Herbst 1950 mit dem Auftrag auf die gerade eröffnete Baustelle gekommen, eine längere Reportage für die Tageszeitung »Neues Deutschland« zu schreiben. Er blieb sechs Monate, lebte und arbeitete dort, und statt des Berichts verfasste Mundstock seinen Roman, von dem es in einer Rezension hieß, er enthalte »manche breite und dabei im Grunde nichtssagende Milieuschilderung«.12 Gerade diese, durchaus parteiische »Milieuschilderung« aus der Sicht eines Teilnehmenden liest sich wie ein mit dem konkreten Ort verbundenes Tableau von Beobachtungen und Projektionen, die anhand von zwei Passagen zitiert werden sollen, da sie den künftigen Erinnerungsort konturieren: »›Freunde, Genossen!‹ fuhr Günter fort, ›Da ist die Gerda, sie singt auf der Baustelle! Ihr müsst mal hören, wie das klingt, wenn sie bei der Arbeit singt! Bei ihr ist jedes Lied ein Axthieb und jeder Axthieb ein Lied. Geregnet hat’s Tag und Nacht, der Boden ist aufgeweicht, da kommt sie ins Zelt, pitschnaß. ›Stell dir vor‹, sagt sie, ›in einem Jahr stehen hier Häuser, jeder hat ein Badezimmer und geht unter die Dusche, wenn es ihm gefällt, nicht, wann der Himmel will! Da ist er, der neue Mensch!‹«13

Dieser Traum vom individuellen Glück durch kollektive Anstrengung wird begleitet von dem der Weltbeherrschung, der Machbarkeit von Zukunft, der in ein Bild des Baukrans gekleidet wird: »Welch ein Bild! Ihr Kran blieb der höchste! Unter ihr das blühende Land, die Felder golden, die Gärten grün, die Wälder dunkel. Die Mosaike der Dörfer, des Städtchens immer reicher, immer bunter, immer näher aneinander und jetzt mit den Hochöfen und Walzstraßen und Wohnsiedlungen und Kulturstätten und Parks der neuen Fabrikstadt zu einer einzigen, vom Menschen geprägten Landschaft verbunden. Herr der Schöpfung, überschaute Christa sie von ihrer Höhe. […] Denn alles, was auf der befreiten Erde geschah, war ein gemeinsames Werk und ihr Werk ein Teil des Ganzen.«14 Das industrielle Schlaraffenland erscheint hier, ganz in der frühneuzeitlichen Tradition, als gestaltbare, dienliche und von Menschhand geschaffene Landschaft.

Die von Mundstock entwickelte Personenkonfiguration – enthusiastische, oft naive Jugendliche, ältere, skeptische Fachleute, auf schnellen Verdienst orientierte »Goldgräber«, Spekulanten und Schieber, vor allem aber junge Menschen, die durch die Arbeit an dem gemeinsamen Projekt ihre durch Kriegs- und Nachkriegserfahrungen geprägte zweifelnde Haltung überwanden – bildeten fortan den Kanon der Berichte vom Aufbau Eisenhüttenstadts. Sie kulminierten in der Festwoche zum zehnjährigen Bestehen von Stadt und Werk.

Kern der Festwoche war, unter dem Einfluss der kulturpolitischen Orientierung des Bitterfelder Weges, das Massenspiel »Blast das Feuer an« mit etwa 1.000 Beteiligten. Es fasste die im Verlauf der 1950er Jahre herausgearbeitete Narration Eisenhüttenstadts als politischer wie lebensweltlicher Erinnerungsort zusammen: »Die Hüttenfestspiele sind eine neue Form des künstlerischen Massenschaffens. Ohne eine durchgehende Handlung werden sie die 10 Jahre schwerer und erfolgreicher Aufbauarbeit in der 1. sozialistischen Stadt und des Werkes so deutlich machen, dass jeder begeistert wird von der großen Kraft und Stärke der Volksmassen unter Führung der Partei der Arbeiterklasse.«15 Das Massenspiel verknüpfte, unter Verwendung von Mundstocks noch sehr realen Figuren, idealtypisierte individuelle Entwicklungswege in der DDR mit einer historischen Erzählung vom ›schweren Anfang‹, und dies in unmittelbarem Anschluss an die Ereignisse (Abb. 2).

1960 kulminierte die Konstruktion der Neuen Stadt als Erinnerungsort, indem Historisierung, Erfahrung und Erinnerung zu einer gradlinigen Narration verwoben waren. Damit wurde einerseits ein Abschluss des Aufbauprojekts signalisiert, andererseits der Blick auf die Gegenwart verschoben, die sich in der in Eisenhüttenstadt realisierten, sozialistisch geprägten Moderne ausdrückte.

Die sozialistische Moderne

Bereits in seiner ebenfalls 1960 fertig gestellten »Stalinstädter Oper« hatte Jean Kurt Forest den Höhepunkt der Handlung auf ein Liebesduett gelegt, in dem der Traum von einer gemeinsamen Drei-Zimmer-Wohnung Realität wird.16 »Am besten, Sie kommen kurzerhand einmal her und schauen sich bei uns um«,17 lautete der Tenor der sechziger Jahre, in denen die Berichte über die Stadt vor allem ihre Wohnqualität, die Einkaufsmöglichkeiten und die Versorgung mit Kindergärten rühmten, nicht ohne den bevölkerungsstatistischen Hinweis, sich in der ›jüngsten Stadt der DDR‹ zu befinden. Die Zeiten des heroischen Aufbaus waren vorüber, es herrschte die Zeit des 7-Jahrplans mit seinen konsumpolitischen Zielsetzungen.

In der Tat war Eisenhüttenstadt eine der bestversorgten Städte der DDR. Hier gab es binnen eines überschaubaren Zeitraums moderne Neubauwohnungen, ein Umstand, der von vielen Zuzüglern neben dem hohen Lohnniveau als entscheidender Grund für den Umzug nach Eisenhüttenstadt genannt wurde. Auch äußerlich modernisierte sich die Stadt sichtbar: Die Bebauung der Magistrale, der Hauptstraße zwischen Zentralem Platz und Werkseingang, wurde in den späten 1950er Jahren im Stil der Internationalen Moderne geplant, und ihre drei Hochhäuser prägten die Silhouette Eisenhüttenstadts, wo einst der Turm eines Kulturhauses im stalinistischen Stil dominieren sollte. Der Bau des Stadtzentrums bedeutete die Komplettierung der kompakten Neuen Stadt, wie sie Anfang der 1950er Jahre entworfen worden war, und dies noch einmal in der hervorgehobenen Beispielhaftigkeit des in der DDR Möglichen. So erhielten die Geschäfte der Magistrale eine individuelle, handwerklich gefertigte Einrichtung und ein Verkaufspavillon für Autos symbolisierte alltagspraktisch erreichbaren Wohlstand ebenso wie die Zukunftsoption eines Endes von Mangel und Entbehrung (Abb. 3).

Auch wenn in den Jahren um 1960 weiterhin Fantasien über eine künftige Entwicklung verbreitet wurden, so unter anderem die Entwicklung Eisenhüttenstadts zur Großstadt, ein S-Bahnanschluss nach Berlin oder die Vollmotorisierung der Bevölkerung,18 so war doch unübersehbar, dass die Entwicklung der neuen Stadt zu einem vorläufigen Abschluss gekommen war. Was die 1960er Jahre kennzeichnete, ist Entheroisierung. So wurde Stalins Name 1961 im Zuge der Entstalinisierung in der DDR ausgemustert und die Neue Stadt in Eisenhüttenstadt umgetauft. In einer Reportage, die Karl Mundstock, Autor des 1952 erschienenen Aufbauromans, 1968 veröffentlichte, dominierte eine Mischung aus ironischer Selbstheroisierung und Gegenwartslakonie.19 Sie verweist auf den Zustand der Stadt, die sich nun einer kanonisierten Aufbaulegende bediente, um die Vorzüge der Gegenwart in den Vordergrund ihrer Selbstrepräsentation zu stellen (Abb. 4).

Man könnte diese Zeit zwischen Mitte der 1960er und Ende der 1980er Jahre als Periode des ›Rose vor Neubau‹-Sozialismus bezeichnen, jedenfalls, wenn man der Bebilderung der in dieser Zeit erschienenen Publikationen folgt. Eisenhüttenstadt war in dieser Zeit kein Erinnerungsort, sondern ein Gegenwartsort, der Fortschritte, gepaart mit Normalität und Zufriedenheit versprach. Seit Mitte der sechziger Jahre wurden Werk und Stadt weiter ausgebaut. Ein Kaltwalzwerk (1968) und ein Stahlwerk (1984) machten eine teilweise Weiterverarbeitung des Roheisens vor Ort möglich und zogen den Bau von insgesamt drei neuen Wohnkomplexen in industrieller Bauweise nach sich. Eisenhüttenstadt konsolidierte sich als moderne Industriestadt, deren Bewohner bis in die Hausgemeinschaften und die Freizeitgestaltung hinein nach dem Rhythmus der Schichten des strukturbestimmenden Eisenhüttenkombinats lebten.

Der Zerfall einer Utopie

Das geschlossene System der Vollversorgung bedeutete zugleich eine Art Normierung, die mit der Konzeption einer »Sozialistischen Lebensweise« einherging und aus der zwar Einzelne durch Wegzug, Aufnahme eines Studiums oder Rückzug in subkulturelle Gemeinschaften flohen, die aber wesentlich bis zum Umbruch von 1989/90 konserviert wurde. Eisenhüttenstadt glich sich damit den Lebensbedingungen in den Neubaugebieten der DDR an.

Zugleich erfolgte eine erneute Historisierung der Neuen Stadt, indem die Kernbereiche ihres Stadtplans, die Wohnkomplexe I bis III, 1984 unter Denkmalschutz gestellt wurden. Damit wurde auch jetzt auf noch die herausgehobene Stellung Eisenhüttenstadts als ›erste sozialistische Stadt‹ zurückgegriffen. Es ist kein Zufall, dass gerade Eisenhüttenstadt im Jahre 1986 als DDR-Partner für die erste deutsch-deutsche Städtepartnerschaft mit Saarlouis ausgewählt wurde. Trotz ihres inzwischen verblassten Glanzes galt die Stadt offenbar als geeignete Repräsentantin der zwischenstaatlichen Beziehungen zur Bundesrepublik. Fast ebenso zwangsläufig gehörte Eisenhüttenstadt nicht zu den Zentren der ›Friedlichen Revolution‹ in der DDR.20

Mit dem Ende der DDR büßte die Stadt unmittelbar ihre politische und ideologische Bedeutung ein; einstmals als die ›erste sozialistische Stadt‹ bezeichnet worden zu sein, wurde als Makel interpretiert. Es folgte eine Periode des Zwiespalts zwischen Vergessen, Verdrängen, Adaption und Rehistorisierung.

Zwischen Normalitätswunsch und Historisierung

Nach 1990 stand der Erhalt des industriellen Kerns zunächst im Fokus der Aufmerksamkeit von Politik und Stadtbevölkerung, der erst 1994 mit der erfolgreichen Privatisierung des ehemaligen Eisenhüttenkombinats gelang. Eisenhüttenstadt präsentierte sich nach außen weiterhin als moderne Industriestadt mit guten Lebensbedingungen, jedoch ging seine regionale wirtschaftliche Bedeutung durch die Schließung der Bau- und Lebensmittelindustrie weitgehend verloren. Der Verlust des Status einer kreisfreien Stadt durch die Gebietsreform in Brandenburg 1993 und gescheiterte Projekte, wie des Baus einer Oderbrücke oder die Ansiedlung einer metallurgie-orientierten Fachhochschule, beschleunigten den Niedergang. Durch Abwanderung sank die Bevölkerungszahl von 53.000 im Jahr 1988 auf heute die Hälfte, so dass Leerstand und Abrisse jahrelang zum Stadtbild gehörten.

Zum offiziellen Selbstbild Eisenhüttenstadts gehört auch heute noch, wie in den 1960er und 1970er Jahren, die Selbstbeschreibung als Industriestadt mit guten Lebensbedingungen. Die industrielle Monostruktur der Planstadt erwies sich nun jedoch als struktureller Nachteil, insbesondere ohne die Zukunftserzählung ihrer Gründungsjahre und ohne ihre privilegierten Lebensbedingungen. Die Folge war – und ist – eine innerstädtische Identitätskrise und ein gravierendes Auseinanderfallen von Selbst- und Fremdbild. Dies wirkte sich auch auf die Binnensicht der Bewohnerinnen und Bewohner aus, wie eine Haushaltsbefragung im Rahmen des Programms »Stadt 2030« gezeigt hat, die ambivalent, zwischen Heimatverbundenheit und Abschottung changierend, ausgefallen war. Insbesondere der Erinnerungsort ›Neue Stadt‹ spielte kaum noch eine Rolle.21

Die Untersuchung aus Mitte der 2000er Jahre bestätigte, was bereits seit 1990 im politischen Raum Praxis war. Das Städtische Museum geriet bereits 1990 in die Kritik, weil dort noch eine Ausstellung des Eisenhüttenkombinats zu sehen war, ebenso der Stadtname. Ein Antrag auf Umbenennung in Fürstenberg/Oder scheiterte jedoch, ebenso wie die Modifizierung des Stadtwappens. Dieses Stadtwappen aus den 1970er Jahren, das die Neue Stadt durch eine Komposition aus Hochofen, Hochhaus und Friedenstaube symbolisiert, wurde schließlich im Vorfeld der Fünfzig-Jahr-Feier Eisenhüttenstadts im Jahr 2000 still aus der Nutzung genommen und durch eine neues Stadtlogo ersetzt, das seither die öffentliche Kommunikation Eisenhüttenstadts markiert. Symptomatisch erscheint auch, dass eben jene Fünfzig-Jahr-Feier zwar mit einer allseits lebhaft erinnerten Festwoche begangen wurde, jedoch eine historische Auseinandersetzung mit der Stadtgeschichte nicht durch die Stadt, sondern durch Publikationen des Stahlwerks und von privater Seite betrieben wurde.22 Erst in den letzten Jahren ist die Geschichte der Neuen Stadt durch mehrere Ausstellungen wieder Thema in der Stadtöffentlichkeit geworden (Abb. 5).

Dieser bestenfalls ambivalenten Binnenperspektive steht eine Renaissance der Stadt in der Fachwelt gegenüber. Seit den frühen 1990er Jahren beschäftigten sich Architektur- und Stadtplanungshistoriker, Soziologen und Historiker mit der Planstadt der 1950er Jahre.23 Eisenhüttenstadt kann deshalb heute als eine der bestuntersuchten Neuen Städte gelten. Die Stadt wurde aus wechselnden Perspektiven als »letzter Monolith«, als ein »Grundriß der frühen DDR«, als »Idealstadt«, unter dem Gesichtspunkt des gesellschaftlichen Wandels zwischen den 1950er und den 1990er Jahren, als »Ort deutscher Geschichte in den Neuen Bundesländern« und damit eines »Erinnerungsortes« analysiert.24 Ausstellungen wie das Projekt »Aufbau West – Aufbau Ost«25 haben wesentlich dazu beigetragen, eine vergleichende Perspektive zu entwickeln. In einem gewissen Umfang hat dieses erwachte Interesse an der Neuen Stadt auch die Öffentlichkeit erreicht, kontrastiert allerdings durch eine ›dark history‹ unter dem Motto »Die Musterstadt blieb vom Pech verfolgt« oder »Eine Stadt wartet auf ihre Pointe«.26

Im Sinne einer historischen Wiederaufwertung war die denkmalgerechte Sanierung der Kernstadt ein großer Erfolg. Der Abriss von Neubauquartieren mit Tausenden von Wohnungen zeigt sich jedoch auch als Verlustgeschichte, indem lebensweltliche Nachbarschaften nicht mehr existieren. Dennoch entwickelte sich trotz des Bedeutungsverlustes und der Statusunsicherheit in den 1990er und 2000er Jahren so etwas wie eine neue Stadtidentität, die jedoch gleichsam subkulturellen Charakter hat. Blogs27 und ein bemerkenswerter Dokumentarfilm28 zeigten eine lebendige Jugendkultur, die jedoch weit entfernt von offiziellen Positionen der Stadtpolitik war. Die teilweise entfunktionalisierte Neue Stadt wird damit zu einem neuen Erinnerungsort, der begrifflich noch nicht zu fassen ist.

Anmerkungen

1 Die hier und im folgenden genannten Daten stützen sich auf die Untersuchungen von Jochen Cerny, Der Aufbau des Eisenhüttenkombinates Ost 1950/51, Diss. Jena 1970; Rosmarie Beier (Hg.), Aufbau West – Aufbau Ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit, Ostfildern-Ruit 1997; Jenny Richter/Heike Förster/Ulrich Lakemann, Stalinstadt – Eisenhüttenstadt. Von der Utopie zur Gegenwart. Wandel industrieller, regionaler und sozialer Strukturen in Eisenhüttenstadt, Marburg 1997; Ruth May, Planstadt Eisenhüttenstadt. Ein Grundriß der frühen DDR. Aufgesucht in Eisenhüttenstadt, Dortmund 1999; Lutz Schmidt (Bearb.), Einblicke. 50 Jahre EKO Stahl, Eisenhüttenstadt 2000; Elisabeth Knauer-Romani, Eisenhüttenstadt und die Idealstadt des 20. Jahrhunderts, Weimar 2000; Andreas Ludwig, Eisenhüttenstadt. Wandel einer industriellen Gründungsstadt in fünfzig Jahren, Potsdam 2000.

2 Wolfgang Anton, Arbeitskräfte und Betriebe, in: Eisenhüttenstadt. »Erste sozialistische Stadt Deutschlands«, Berlin 1999, S.  66−69; Manfred Plöckinger, Das Haftarbeitslager Vogelsang, in: ebd., S. 149−151.

3 »16 Grundsätze des Städtebaus«, abgedruckt bei Ludwig, Eisenhüttenstadt (wie Anm. 1), S. 109−111.

4 Kurt W. Leucht, Die erste neue Stadt in der DDR. Planungsgrundlagen und -ergebnisse von Stalinstadt, Berlin 1957.

5 Wolfgang Kil, Der letzte Monolith. Baudenkmal Stalinstadt, in: Bauwelt (Gütersloh) 1992/X, S. 497– 505.

6 Detailliert nachgezeichnet in Werner Durth/ Jörn Düwel/Niels Gutschow (Hgg.), Architektur und Städtebau in der DDR, Bd. 1: Ostkreuz. Personen, Pläne, Perspektiven, Frankfurt am Main/ New York 1998, S. 356−431.

7 Andreas Ludwig, Wendung zur Wirklichkeit. Oskar Nerlinger und das EKO 1952, in: Heimatkalender Eisenhüttenstadt 2001, S. 82−87; Stiftung Archiv Akademie der Künste, Berlin, Nerlinger-Archiv Nr. 90, Vortrag (undatiert).

8 Ebd., Nr. 83, undatiert.

9 Vgl. den Bildband von Heinz Colditz/Martin Lücke, Stalinstadt. Neues Leben – neue Menschen, Berlin 1958.

10 Dagmar Semmelmann, »Schauplatz Stalinstadt/ EKO«. Erinnerungen an den 17. Juni 1953, 2 Hefte, Potsdam 1993. Vgl. auch die problematisierende Einführung bei Lutz Niethammer, Die Geheimnisse des roten Hochöfners Rudolf Schmelzer (67 Jahre), in: Ders./Alexander von Plato/Dorothee Wierling, Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffnungen, Berlin 1991, S. 382– 408, hier S. 382 f., für die ein Teil der Interviews in Eisenhüttenstadt geführt wurde.

11 Hilmar Pabel, Stalinstadt an der Oder. Deutschlands jüngste Stadt. Ein Bildbericht, in: Quick, Nr. 12/1955 (19.03.1955).

12 Wolfgang Joho, Der schwere Weg zum Roman. Zu »Helle Nächte« von Karl Mundstock, in: Sonntag. Wochenzeitung für Kulturpolitik, Kunst und Unterhaltung, Jg. 1953, Nr. 12, S. 4.

13 Karl Mundstock, Helle Nächte, Halle 1952, S. 30.

14 Ebd., S. 45.

15 Städtisches Museum Eisenhüttenstadt, Do 3670/90, Hüttenfestspiele, Vorlage vom 21.04.1960.

16 Stalinstädter Oper in 5 Bildern. Musik: Jean Kurt Forest, Libretto: J. H. Weinrich/J. A. Weindick, 1960; vgl. Stiftung Archiv der Akademie der Künste. Nachlaß Forest, Sign. 460. Eine Kopie des Klavierauszuges befindet sich im Städtischen Museum Eisenhüttenstadt, Do 2792/87.

17 Sieglinde Uebel, Ich bin aus Stalinstadt, in: Urania-Universum 7 (1961), S. 435−442, hier S. S. 437.

18 [Helmut Preissler,] Briefe aus Stalinstadt im Jahre 1963. Postwurfsendung, Frankfurt/Oder 1958.

19 Karl Mundstock, Die große Zeit der Meister, in: Helmut Hauptmann (Hg.), DDR-Reportagen. Eine Anthologie, Leipzig 1969, S. 414−418, Auszug aus Ders., Wo der Regenbogen steigt. Skizzen, Halle 1970 [ND Rostock 2005]. Das Buch wurde kurz nach Erscheinen zurückgezogen und makuliert.

20 Günter Fromm, Wende und basisdemokratische Bewegung in Eisenhüttenstadt seit 1989, in: 10 Jahre danach. Kreiskalender Oder-Spree 1999, S. 27−34.

21 Lara Bartscherer/Christoph Haller/Jörg Ihlow/Gerald Leue, EisenhüttenStadt 2030. Abschlussbericht, Berlin 2005, S. 203 u. 239.

22 Vgl. Schmidt Einblicke (wie Anm. 1); Ludwig, Eisenhüttenstadt (wie Anm. 1); Eisenhüttenstadt (wie Anm. 2).

23 Friedrich Spengelin (Bearb.), Eisenhüttenstadt. Vor-Ort-Seminar in Eisenhüttenstadt, 13.–19. Oktober 1993. Dokumentation, Berlin 1993.

24 Andreas Ludwig, Die Neue Stadt an der Oder. Annäherung an die schwierige Geschichte von Fürstenberg-Stalinstadt-Eisenhüttenstadt, in: Günter Kosche (Hg.), Orte deutscher Geschichte in den neuen Bundesländern. geteilt, vereint, gefunden. Begleitbuch zur Ausstellung, Berlin 2000, S. 49−59; Ders., Eisenhüttenstadt, in: Martin Sabrow (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 128−138.

25 Beier, Aufbau West (wie Anm. 1).

26 Michael Allmeier, Die verbotene Stadt, in: Die Zeit vom 27.02.2003; Christian Bangel, Eine Stadt wartet auf ihre Pointe, in: ZEIT online vom 10.09.2012, http://www.zeit.de/lebensart/2012-08/lust-auf-stadt-eisenhuettenstadt [zuletzt: 24.12.2020].

27 www.eisen.huettenstadt.de, bis 2006 [zuletzt: 24.12.2020].

28 Johanna Ickert, Hüttenstadt (2006).

Abbildungsnachweis

Abb. 1 Deutsche Architektur 1 (1952)/III, S. 100 –105, hier S. 100.

Abb. 2, 3, 4 Wolfgang Timme.

Abb. 5 Autor

 

 

Der Beitrag erschien in:

Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 275-287.


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