Oderbruch

Reinhard Schmook

Das Oderbruch ist eine historische Kleinlandschaft dies- und jenseits der deutsch-polnischen Grenze und ein einmaliger Erinnerungsort an die friderizianische Siedlungspolitik im 18. Jahrhundert. In ihrem nördlichen Teil ragt die historische Neumark in das Bruch hinein, der mittlere Teil gehört zum Oberbarnim und der Süden ist Bestandteil des Lebuser Landes (Mengel 1930/34). Heute liegt die Landschaft im 1993 gebildeten Landkreis Märkisch-Oderland.

Entstehung und erste Besiedlung

Die ca. 56 Kilometer lange und bis 20 Kilometer breite Hohlform stellt ein vor 200.000 Jahren während der Saale-Kaltzeit angelegtes Gletscherzungenbecken dar, das von den jüngeren Elster- und Weichselkaltzeiten nur noch überformt wurde. Der Gletscher der Weichselkaltzeit war im Vergleich zu seinen Vorgängern weniger geomorphologisch wirksam, so dass er die einmal angelegte Senke nicht vernichten konnte. Nach seinem Rückzug blieb im Oderbruchtrog ein gewaltiger, mit Erde und Geröll überdeckter Toteisblock liegen, über dem der Schmelzwasserstrom des Thorn-Eberswalder Urstromtales hinwegrauschte. Später wurde das Toteis durch das Einschneiden der Oder Stück für Stück freigelegt, so dass es allmählich abtauen konnte. In der Folgezeit überschwemmte das Wasser der Oder die Bruchniederung immer wieder und ebnete dabei die Geländeoberfläche weitgehend ein (Lutze 2014, 90ff.).

Das Oderbruch und vor allem seine Ränder waren schon früh von Menschen bewohnt. Die ältesten Funde stammen aus der Altsteinzeit vor etwa 10.000 Jahren. Eine dauerhafte Besiedlung ist allerdings erst seit der jüngeren Steinzeit nachweisbar. Die angrenzenden, wenig gegliederten Hochflächen sind dagegen nie so dicht bevölkert gewesen wie das gewässer- und fischreiche Oderbruch (Schmook 1999, 19).

Sein heutiges Aussehen bekam das Oderbruch durch die friderizianische Trockenlegung und nachfolgende Neubesiedlung seit Mitte des 18. Jahrhunderts, eine Zäsur, die in Mitteleuropa ein Alleinstellungsmerkmal darstellt und das Erscheinungsbild dieser Landschaft durchgreifend veränderte. Die Niederung beginnt bei der Stadt Lebus und erstreckt sich bis an den Südrand der Uckermark bei Oderberg und Hohensaaten (Abb. 1). Unterhalb von Bad Freienwalde ist das Bruch 1,5 bis 4 km breit, sonst aber 12 bis 20 km. Die Flussaue wird scharf und klar begrenzt von den Hochflächen der Uckermark, des Barnim, des Lebuser Landes, des Landes Sternberg und der Neumark. Sie sind 30 bis 100 m hoch und fallen zum Bruch oftmals steil ab. Das Gelände selbst erhebt sich nur wenig über den Meeresspiegel. Von Südost nach Nordwest fällt es recht gleichmäßig von 14 m im oberen Teil bis auf 2 m über NN in der Nähe der Stadt Bad Freienwalde ab. Das Bild der künstlich geschaffenen Kulturlandschaft wird bestimmt durch die Ebenheit des Geländes, das nur selten kleinere sandige Erhebungen aufweist, durch Äcker und Wiesen, durch einzeln stehende Bäume, Baumgruppen und Baumreihen entlang der Wasserläufe und Straßen, durch viele Altwässer der Oder nebst schnurgerade gezogenen Entwässerungsgräben sowie durch Aufschüttungen für Straßen und Siedlungen (Abb 2, 3). Der Hauptstrom der Oder, der heute die Grenze zur Republik Polen bildet, ist nicht, wie es leider auf vielen neueren Karten dargestellt wird, die östliche Begrenzung des Oderbruchs. Seit dem 18. Jahrhundert wird er künstlich durch mächtige Deiche an der etwas höher gelegenen Ostseite des Oderbruchs gehalten. Die dem natürlichen Gefälle folgenden alten Oderarme und das Kanalsystem der Binnenentwässerung führen das Wasser aus der Niederung heraus, unterstützt durch 38 kleinere und größere Schöpfwerke. Trotz eines intensiv betriebenen Hochwasserschutzes ist das Oderbruch nach wie vor von den Fluten der Oder bedroht, wie zuletzt in akuter Form im Hochsommer 1997. Ein normales Leben und Wirtschaften ist in dieser Landschaft seit den Oderregulierungen im 18. und 19. Jahrhundert nur im Schutze intakter Deiche möglich (Schmook 1999, 80).  

Vor der Trockenlegung und Neubesiedlung war das Oderbruch eine nur dünn besiedelte Auenlandschaft, die in der Regel zweimal im Jahr unterschiedlich stark von den Oderfluten überschwemmt wurde. Im niederen Bruch gab es etwa ein Dutzend kleiner Dörfer, die auf niedrigen Sandinseln gelegen weniger schweren Hochwassersituationen durchaus trotzen konnten. Die einfachen Mittelflurhäuser lagen dicht gedrängt um einen mehr oder weniger runden Dorfplatz beieinander (Abb. 4). Zum Schutz vor dem Hochwasser hatte man hinter den Häusern Dungwälle aufgeschüttet, die aber bei Hochfluten dem reißenden Strom nur wenig Widerstand entgegensetzen konnten. Die slawisch-stämmigen Bewohner lebten ausschließlich vom Fischfang, später kam etwas Viehhaltung hinzu. Sie führten ein stilles, zurückgezogenes Dasein und kamen in ihrem Leben lediglich bis Wriezen, wo sich bis in die frühe Neuzeit der größte privilegierte Fischmarkt an der Oder befand. Dort, bei den „Hechtreißer“ genannten Fischhändlern, mussten sie ihre Fische verkaufen, gingen zur Kirche und bestatteten hier ihre Toten.

Trockenlegung

Die Trockenlegung des Oderbruchs zählt zu den berühmtesten Beispielen großräumiger Meliorationen in Mitteleuropa. Erste Deiche baute man bereits zur Regierungszeit des Kurfürsten Joachim I. (1484-1535), die aber den immer wieder hereinbrechenden Oderfluten zum Opfer fielen. Bis 1717 ließ König Friedrich Wilhelm I. die im Oberoderbruch gelegenen Flächen der königlichen Domänen durch einen von Lebus bis Zellin reichenden Damm schützen. Diese Maßnahme führte dazu, dass bei nachfolgenden Hochwassersituationen das Niederoderbruch umso stärker überschwemmt wurde. „Friedrich II. setzte diese Bemühungen mit starkem persönlichem Einsatz fort. Er berief eine besondere Oder-Baukommission unter dem Staatsminister von Marschall, der der holländische Wasserbaumeister von Haerlem angehörte. Sie sollte die Grundlagen dafür erarbeiten, dem Strom ein stärkeres Gefälle zu geben, ihm auf weite Strecken ein neues Bett zu graben und dieses in standfeste Dämme zu fassen. Das war eine Aufgabe, an die mit wissenschaftlicher Akribie herangegangen wurde: Am 8. Juli 1747 begann eine Stromkommission auf einem Oder-Kahn eine mehrtägige Fahrt, bei der die notwendigen Messungen und Berechnungen angestellt wurden. Zu diesem Zweck nahm auch ein Akademiemitglied, der Mathematiker Leonhard Euler, daran teil – einer der ersten Fälle, bei dem sich theoretische und praktische Vernunft im Staatssystem des Königs verbanden.“ (Schieder 1983, 336)

Friedrich II. (1712-1786) wandte sich erst nach dem Ende des Zweiten Schlesischen Krieges 1746 intensiver der Innenpolitik zu (Abb. 5). Als einen Schwerpunkt sah er die „Peuplierung“ an, womit die Erhöhung der Einwohnerzahl seines Staates durch die Ansiedlung von Ausländern gemeint ist. In seinem zweiten politischen Testament von 1768 äußerte er sich dazu folgendermaßen: „[…] denn auf das Wachstum der Bevölkerung muss die erste Sorge der Regierung gerichtet sein, da eine starke Volkszahl den wahren Reichtum des Herrschers bildet. Anbaufähiges Land ist längs der Oder, Warthe und Netze urbar gemacht worden. Diese Arbeiten werden etwa 1771 vollendet sein. Danach bleiben in Pommern noch einige Gegenden anzubauen, vielleicht auch im Havelland. […] Der erste Grundsatz, der allgemeinste und wahrste ist der, dass die wahre Kraft des Staates in einer hohen Volkszahl liegt. […] Um diesen Grundsatz in die Praxis zu übertragen, gibt es zwei Mittel: erstens alle anbaufähigen Ländereien urbar zu machen und Kolonisten anzusetzen; zweitens die Manufakturen zu vermehren. Ich habe beide Mittel angewandt und keine Kosten gescheut, um Dörfer längs der Oder, Netze und Warthe anzulegen, in Ostpreußen einen Sumpf zu entwässern und urbar zu machen, die meisten Vorwerke in Dörfer zu verwandeln, um eine große Zahl von Wollspinnern anzusiedeln, die auf dem platten Land fehlten. […] Sind wir mit der Arbeit im Warthebruch fertig, so bleibt noch der Madüsee, die Gegend bei Havelberg und das Fürstentum Oppeln, wo wohl mindestens noch 30 Dörfer angelegt werden können. Auch in Ostfriesland lässt sich mit Hilfe der Polder in einigen Jahren das ganze Land zurückgewinnen, das vom Meer überschwemmt ist.“ (Bolz 1920, 99f und 112)

Im Zuge der friderizianischen Trockenlegung und Besiedlung zwischen 1747 und 1770 erhielt das Oderbruch seine europäische Dimension. Nach einem Plan des Oberdeichinspektors Simon Leonhard von Haerlem (1701-1775) (Abb. 6) begannen auf Befehl König Friedrichs II. 1747 die Regulierungsarbeiten an der Oder, deren Kernstück der „Neue Oder Canal“ von Güstebiese bis Hohensaaten war. Der Bau dieses Kanals erwies sich als äußerst schwierige Aufgabe. Ein längeres Teilstück musste durch den westlichen Sporn der neumärkischen Hochfläche gegraben werden. Die Erdarbeiten wurden sowohl von Sträflingen als auch von den ersten Kolonisten ausgeführt. Wo sie nicht ausreichten, setzte der König das gerade nicht im Krieg befindliche Militär ein. So arbeiteten an dem Projekt seit 1750 jährlich etwa 750 Soldaten mit. Trotz aller Rückschläge wie Hochwassereinbruch, Seuchen, Desertionen und den Widerstand der altansässigen Fischer waren die Arbeiten nach sechs Jahren beendet. Durch den zunächst etwa 38 Meter breiten Kanal wurde der Oderlauf um 25 Kilometer verkürzt, der Rückstaupunkt von Zellin nach Oderberg verlegt und der Rückstau um immerhin 3,50 Meter gesenkt. Infolge dieser genialen ingenieurtechnischen Leistung wurde das fruchtbare Land sehr schnell trocken und war nunmehr für den Ackerbau und die Anlage neuer Siedlungen nutzbar.

Bei den alten Oderbrüchern stieß das Trockenlegungswerk zunächst auf strikte Ablehnung. Besonders die Fischer befürchteten den Verlust ihrer Lebensgrundlagen, denn durch Abdämmen gingen die meisten ihrer Fischgründe verloren. Nur unter Zwang stellte manch Fischer seinen Kahn für die Erdtransporte zur Verfügung. Andere schlichen bei Nacht zu ihren Gewässern und durchstachen die neuen Deiche. Wurden sie erwischt, drohten ihnen drastische Sanktionen, bis hin zur Todesstrafe.

Kolonisation

Die Besiedlung des Oderbruchs mit zumeist nichtpreußischen Kolonisten erfolgte ab 1753 nach einem Plan des Obristen Wolff Friedrich von Retzow (1699-1758), der hier insgesamt 1252 Familien ansiedeln wollte. Als Chef des Potsdamer Gardegrenadierbataillons hatte er sich durch seine organisatorischen Fähigkeiten einen Namen gemacht und war mit der Leitung der Besiedlungsangelegenheiten betraut worden. Sein Plan sah vor, auf der Bruchfeldmark eines jeden Altdorfes eine Kolonie anzulegen und jene Dörfer, die nur einen geringen Teil ihrer Feldmark im Bruch zu liegen hatten, um einzelne Bauernstellen zu vermehren. Zur Anlage und zum Aufbau der Siedlungen wurden spezielle Unternehmer, sogenannte Entrepreneurs, herangezogen. Unter ihnen befanden sich windige Geschäftemacher, die bei den sehr knapp kalkulierten Geldmitteln und Baumaterialien die Gewinnspanne überzogen. Das bedeutete, dass die meisten Häuser wenig stabil und qualitätsvoll errichtet wurden und nach wenigen Jahren schon zu verfallen begannen. Die neuen Koloniesiedlungen unterscheiden sich durch ihre regelmäßige Gestalt ganz wesentlich von den Altsiedlungen, deren Form sich oftmals den mehr oder weniger runden Erhebungen anpasste, auf denen sie im Mittelalter errichtet wurden.  

Durch die Trockenlegung wurden im Oderbruch 133.000 Morgen Acker- und Wiesenland gewonnen, von denen 48 % königliches Domanialland (ca. 64.000 Morgen), 26 % Ländereien des Johanniterordens (ca. 34.000 Morgen), 18 % adliger und bürgerlicher Grundbesitz (ca. 24.000 Morgen) sowie 8% Besitz der Städte Oderberg, Freienwalde und Wriezen (insgesamt 10.800 Morgen) waren. Auf diesem neu gewonnenen Land, das allerdings erst gerodet und urbar gemacht werden musste, entstanden ab 1753 33 Koloniesiedlungen und größere Vorwerke für 1134 Familien. 1766/67 kamen im Bereich des Amtes Wollup noch weitere sieben Dörfer für 363 Wollspinnerfamilien hinzu. Der Gesamtbevölkerungszuwachs im Bruch betrug damals zwischen 7.000 und 8.000 Personen, eine für damalige Verhältnisse enorme Steigerung.

Die neuen Siedler

Die neuen Siedler wurden gezielt im nichtpreußischen Ausland angeworben und durch Bekanntgabe der sie erwartenden Vorteile zur Auswanderung nach Preußen veranlasst. Angesichts der verlockenden Angebote kehrten besonders jene ihrer Heimat den Rücken, die dort unter hohem Abgabendruck und herrschaftlicher Willkür standen oder aber wegen ihres religiösen Bekenntnisses schweren Drangsalierungen ausgesetzt waren. In Preußen erwarteten sie u.a. persönliche Freiheit ohne Erbuntertänigkeit und die vielen sehr wichtige Religionstoleranz. In den meisten Fällen erhielt der Kolonist auf königlichem Etablissement ein fertiges Haus und das dazugehörige Land im gerodeten Zustand. Nach Ablauf eines Freijahres, das am nächstfolgenden Trinitatissonntag begann, hatte er dann lediglich eine jährliche Grundrente von 16 Groschen pro Morgen und die Beiträge zur Deich- und Feuersozietätskasse zu zahlen. Blieb ein Zuwanderer zwei Jahre lang mit seinen Zahlungen im Rückstand, fiel sein Gut an den Staat zurück, und er selbst konnte wieder ausgewiesen werden. Letzteres durfte aber erst nach ausdrücklicher Genehmigung des Königs geschehen. Von den anderen Landesabgaben wie Kontribution, Kavalleriegeld und Schoß war der Kolonist befreit, ebenso von Hofdiensten und Kriegsfuhren. Sein Gut erhielt er als erbliches Eigentum, das nach seinem Tod auf die direkten Nachkommen oder auf die Witwe überging. Erst in der dritten Generation durfte das Anwesen veräußert werden. 1769/70 erhielt jeder Kolonist eine Erbzinsverschreibung, den „Kolonistenbrief“, in dem die Landübereignung und das Erbrecht für die Kinder u.a. Erben verbrieft waren. Außerdem waren die Kolonisten juristisch freie Bauern. Das schützte sie, ihre Kinder und Kindeskinder sowie auch das Gesinde vor gewaltsamer Werbung zum Militärdienst. Diese Privilegien unterschieden sie in ihrer Rechtsstellung ganz wesentlich von den einheimischen Bauern in den das Oderbruch umgebenden Landschaften Barnim, Lebuser Land und der Neumark.

Das Anlegen eines Kolonistendorfes begann mit dem Abstecken des Platzes für die Dorfaue, in deren Mitte der so genannte Schachtgraben ausgehoben wurde. Die zu beiden Seiten aufgeworfene Erde diente, mit gerammten Pfählen befestigt, den Häusern als etwas erhöhter Unterbau. Die meisten Koloniesiedlungen im Oderbruch haben die Form eines lang gestreckten Straßendorfes, in dem die unterschiedlich großen Hofstellen regelmäßig im Wechsel angeordnet waren. Je nach Größe des Grundstücks fielen auch die Abmaße der Häuser aus, von denen es drei in den Dimensionen streng reglementierte Typen gab. Für die kleinen Kolonisten errichtete man Doppelhäuser, die genau auf die Grenze der jeweils benachbarten Grundstücke gesetzt wurden. Die ersten neuen Dörfer, die nach diesem Muster 1753/54 fertig gestellt und besetzt wurden, waren Neulietzegöricke und Neuwustrow.

Die Kolonistenhäuser, von Bauunternehmern nach strengen Vorgaben in Fachwerk erbaut, hatten kaum 6 Fuß (ca. 1,88 m) Raumhöhe. Die kleine Wohnstube mit Lehmfußboden war dumpfig. Die Dächer waren mit Rohr gedeckt. Ohne Fundament lagen die Schwellen auf dem noch feuchten Bruchboden, so dass sie alsbald zu faulen begannen. Schon bei der geringsten Überschwemmung drang Wasser ins Haus. Von diesen Gebäuden der eigentlichen Kolonisationszeit ist keines erhalten geblieben. Die meisten der heute noch stehenden älteren Häuser wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts oder noch später errichtet. Es sind quer gegliederte Fachwerkbauten, die parallel zur Dorfstraße stehen und den Eingang an der Traufseite haben (Abb. 7).

Nach ihrer Konfession teilten sich die Kolonisten in zwei Gruppen: die Reformierten aus der Kurpfalz (Amt Alzey, Grafschaft Falkenstein, Worms, Grafschaft Isenburg), der Schweiz (Neuchâtel, Waadt, Berner Jura) und Hessen-Darmstadt sowie die Lutherischen, die in der Mehrheit waren, aus Niederösterreich, Deutsch-Polen (Herrschaften Obornik, Czarnikau und Filehne), Sachsen, Mecklenburg (Neubukow, Kröpelin), Böhmen, Württemberg, Franken, Hamburg, Trier und Lippe (Uentrop).

Die älteste Koloniesiedlung, Neulietzegöricke im Amt Wriezen, bestand aus 36 Kolonistenstellen, davon 8 mit je 90 Morgen, 4 mit je 45 Morgen und 24 mit je 10 Morgen. Das Kirchenbuch aus dem Jahre 1755 ist erhalten und zeigt an, dass hier Kolonisten aus Deutsch-Polen (Friedrich Teschke, Borkenhagen), aus Württemberg (David Sauder, Matthias Weißer), aus Österreich (Philipp Wagener) und aus dem Harz (Johann Kleinschmidt) angesetzt wurden. Nachkommen der Familien Sauder und Borkenhagen leben noch heute im Dorf. Im gleich großen Nachbardorf Neuküstrinchen wurden ebenfalls 36 Familien mit insgesamt 400 Personen angesiedelt. Hier fanden Reformierte aus der Kurpfalz, meist arme Garnweber u.a. Handwerker, sowie Lutherische aus Deutsch-Polen, Sachsen, Mecklenburg, dem Harz, aus Böhmen und aus der Lausitz eine neue Heimat.

Sofort nach Beendigung des königlichen Etablissements, wie die Neuansiedlung auf königlichem Land genannt wurde, erfolgte deshalb auch die Regelung der kirchlichen Verhältnisse. Zwischen 1772 und 1775 wurden sechs neue Kirchen erbaut, und zwar in Neulietzegöricke, Neubarnim, Neulewin, Neuküstrinchen, Neutornow und Neutrebbin. Bis zur Besetzung der Predigerstellen wurde die Seelsorge durch die Pfarrer in den alten Dörfern ausgeübt. Unter Berücksichtigung der Konfession der in den jeweiligen Orten ansässigen Kolonistenfamilien war die Neulewiner Kirche rein lutherisch und hatte als Filialdörfer Neubarnim und Neutrebbin. Die Kirche in Neutrebbin wiederum trug für die Reformierten den Charakter einer Mutterkirche, zu der Neubarnim als Filial gehörte. Demnach saß in Neulewin ein lutherischer, in Neutrebbin ein reformierter Geistlicher. In Neuküstrinchen residierten ein reformierter und ein lutherischer Pfarrer nebeneinander. Die Gottesdienste wurden jeweils im wöchentlichen Wechsel gehalten. Die 1772-1775 erbaute Neuküstrinchener Kirche war die größte der neu erbauten Bethäuser und für 11 der umliegenden Dörfer gedacht. Die Bewohner im Dorf selbst hielten sich in der Mehrzahl zum lutherischen Bekenntnis, obwohl es auch einen reformierten Pfarrer gab.

Am 23. Januar 1769 wurde die von Simon Leonhard von Haerlem verfasste „Königlich Preußische Teich- und Ufer- auch Graben- und Wege-Ordnung in dem, auf beyden Seiten der Oder, zwischen Zellin und Oderberg belegenen neu bewalleten und urbar gemachten Nieder-Bruch“ veröffentlicht. Sie schloss die Anlieger des Niederoderbruches einschließlich der Kolonisten zu einem Deichverband zusammen und regelte den Ausbau und die Erhaltung der neuen Hochwasserschutzanlagen. Damit endete die Hauptphase der Neubesiedlung und Urbarmachung des Oderbruchs. In den darauf folgenden 100 Jahren entwickelte sich die einst unwirtliche Gegend im Zuge weiterer Hochwasserschutz- und Meliorationsmaßnahmen zu einer der fruchtbarsten Agrarlandschaften Deutschlands. Ackerbau und Hochwasserschutz bestimmen noch heute ganz wesentlich das Alltagsleben im Oderbruch (Schmook 2006, 19ff.).

Kampf gegen das Hochwasser

Schwere Hochwasserkatastrophen führten 1770, 1780 und 1785 zu großen Schäden im Oderbruch. Der Kurmärkische Wasserbaudirektor Cochius stellte von 1809 bis 1811 einen Plan auf, dessen Ausführung die Verhältnisse im Bruch weiter verbessern sollte. Dieser Plan beruhte in der Hauptsache darauf, die Alte Oder bei Güstebiese zu verschließen und die daraus erwachsende Senkung des Wasserspiegels in der Alten Oder für die Verbesserung der Vorflut im Niederoderbruch zu nutzen. Jahrelang prüfte der Oberdeichinspektor Carl Friedrich Theodor Heuer (1785-1854) weitere Möglichkeiten zur Verbesserung des Hochwasserschutzes für das Oderbruch. Als höherer Deichbeamter setzte er sich energisch für die Abtrennung der „Alten Oder“ von der Stromoder bei Güstebiese ein, die 1832 in die Tat umgesetzt wurde. Diese Abriegelung führte dazu, dass das Oderwasser bei hohen Wasserständen nicht mehr ins Oberoderbruch zurückstaute. Bei Hochwasser war aber weiterhin das Niederoderbruch vom Rückstau betroffen, der die Landwirtschaft dort sehr beeinträchtigte. Es war daher dringend nötig, Möglichkeiten für einen wirksamen Hochwasserschutz auch für das Niederoderbruch zu finden. Viele Jahre arbeitete Heuer an einem Plan zur Melioration des Niederoderbruches, zu dem er am 22.6.1837 eine Denkschrift vorlegte. Die Kerngedanken des „Heuerschen Meliorationsplanes“ waren die Verlegung des Rückstaupunktes der Oder 17 km flußabwärts bis nach Stützkow sowie die Eindeichung des gesamten Oderlaufes unterhalb Hohenwutzen. Wegen der Eindeichung der Oder wurde der Bau einer Schifffahrtsschleuse bei Hohensaaten notwendig, um den Schiffsverkehr zum Finowkanal offen zu halten. Heuer schlug auch die Anlage eines Vorflutkanals zur Ableitung des Binnenwassers aus dem Oderbruch vor, der durch die Höhen bei Hohensaaten gegraben werden musste. Er ist unter der Bezeichnung „Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße“ bekannt geworden.

Die von Heuer vorgeschlagenen Arbeiten, mit deren Projektierung er sich im Oderbruch ein bleibendes Denkmal gesetzt hat, wurden zwischen 1849 und 1859 ausgeführt. Erst durch diese wasserbaulichen Maßnahmen erhielt das Oderbruch das Wasserregulierungssystem, mit dem bis heute Vorflut und Wasserhaltung effektiv reguliert werden können.

Leben im Oderbruch

Die im Oderbruch angesiedelten Kolonisten, die aus nichtpreußischen deutschen Landschaften, aus der Schweiz, aus Österreich und aus Polen stammten, brachten ihre Eigenheiten in Sprache, Kultur und Lebensweise mit in das Bruch. Mit der Zeit haben sie sich in einem Prozess der Integration und Assimilation sowohl untereinander als auch mit der einheimischen Bevölkerung vermischt. Dabei bildeten sich im Oderbruch spezielle Erscheinungen in Kultur und Lebensweise sowie sprachliche Besonderheiten heraus, die sich erheblich von denen der angrenzenden Landschaften unterschieden. Von diesen Innovationen ist bis heute vieles fass- und erlebbar.

Eine weltgeschichtliche Dimension bekam das Oderbruch gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, als vom 16. bis 20. April 1945 hier die größte Schlacht tobte, die jemals auf deutschem Boden ausgetragen wurde. Im Zuge der „Berliner Operation“ überwand in schweren Kämpfen und unter ungezählten Opfern die Rote Armee die letzte nennenswerte Verteidigungslinie Nazideutschlands in Richtung Reichshauptstadt Berlin zwischen Lebus und Wriezen. Dieses gravierende Ereignis, das neben den vielen Toten flächendeckende Zerstörungen hinterließ, ist als „Sturm auf die Seelower Höhen“ in die Geschichte eingegangen. Die vielen sowjetischen und deutschen Soldatenfriedhöfe westlich der Oder sowie der polnische Soldatenfriedhof östlich davon bei Stare Łysogórki (Alt Lietzegöricke) sind dauerhafte Zeugnisse der Erinnerung und Mahnung. Bis auf den heutigen Tag werden immer wieder Gebeine von Soldaten gefunden, die bei den schweren Kämpfen vor fast 75 Jahren im Oderbruch gefallen sind.

Seit 1945 ist die Oder infolge der Vereinbarungen der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges die Grenze zwischen Deutschland und Polen (Abb. 8). Die östlich der Oder gelegene Kolonie Hälse (Porzecze), die Altsiedlungen am östlichen Oderbruchrand und die Stadt Kostrzyn haben seitdem eine polnische Bevölkerung und eine ganz eigene Geschichte. Zwischen den EU-Ländern Deutschland und Polen (seit 2004) gibt es im Oderbruch drei Grenzübergänge: Die Brücke bei Hohenwutzen/Osinów Dolny, die Fähre bei Güstebieser Loose/Gozdowice sowie die Eisenbahn- und Straßenbrücken bei Küstrin-Kietz/Kostrzyn nad Odrą. Über sie ist der Kontakt zum jeweiligen Nachbarn möglich, doch die das Oderbruch teilende Grenze geht auch mit einer Sprachbarriere einher. Trotzdem gibt es viele private wie öffentliche Kontakte und Berührungen an der Grenze beider EU-Staaten, die Hoffnung darauf machen, dass das Oderbruch als Bestandteil unseres gemeinsamen kulturellen Erbes erkannt und entsprechend behandelt wird.

Quellen

Bolz, G.A. (Hrsg): Friedrich der Große. Die politischen Testamente. 2. Aufl. München 1936.

Literatur

Lutze, Gerd W.: Naturräume und Landschaften in Brandenburg und Berlin. Berlin 2014.

Mengel, Peter Fritz (Hrsg.): Das Oderbruch. 2 Bände. Eberswalde 1930 und 1934.

Schieder, Theodor: Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche. Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1983.

Schmook, Reinhard: Märkisch-Oderland. Porträt eines brandenburgischen Landkreises. Neuenhagen 1999.

Schmook, Reinhard: Das Oderbruch als friderizianische Kulturlandschaft. In: Beck, Friedrich / Schmook, Reinhard (Hrsg.): Mythos Oderbruch. Potsdam 2006, S. 19-27.

Abbildungsnachweis

Abb. 1 Harms Heimatatlas für Berlin und die Kurmark. Herausgegeben von W. Ratthey. Leipzig 1937, S. 17.

Abb. 2-8 Autor.

Empfohlene Zitierweise

Schmook, Reinhard: Oderbruch, publiziert am 03.04.2021; in: Historisches Lexikon Brandenburgs, URL: http://www.brandenburgikon.de (TT.MM.JJJJ)

Kategorien

Epochen: Absolutismus / Aufklärung - Preußische Provinz - Land / DDR-Bezirke - Land Brandenburg
Themen: Herrschaft und Verwaltung - Umwelt und Naturraum


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