Möbel aus Rathenow

Werner Coch

Das Holz aus der waldreichen Umgebung von Rathenow war jahrhundertelang einer der wichtigsten Rohstoffe unserer Vorfahren. Holzhändler sind namentlich schon seit dem Jahre 1700 bekannt. Im 18. Jahrhundert profitierten noch 14 Familien vom Holzhandel und von der Flößerei, indem sie Nutzholz nach Hamburg transportierten. In Teeröfen wurden mindestens seit 1704 Holzkohle und Holzteer aus Kiefernholz hergestellt.  Auch die berühmte Rathenower Ziegelindustrie deckte ihren hohen Energiebedarf bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts nur mit Holz. Die erhebliche Entnahme aus den einheimischen Wäldern blieb nicht ohne Folgen, denn das verfügbare Holz wurde immer knapper. Ab 1772 wurde der Stadtwald forstwirtschaftlich betreut, um den Grundbedarf zu sichern, denn Holz war als Heizmaterial weiterhin unentbehrlich und diente vielen Handwerksbetrieben als Rohstoff. Vor allem Zimmerer, Stellmacher, Tischler und Bootsbauer stellten daraus ihre Produkte her und gaben zahlreichen Familien Lohn und Brot. Im Jahre 1909 gab es in Rathenow z.B. vier Sägewerke, zwei Dampfschneidemühlen und zwei Schiffswerften. Außerdem waren laut Adreßbuch fünf Stellmachermeister, 16 Tischlermeister, sieben Zimmermeister und sechs Bauunternehmer in Rathenow tätig, die alle sehr viel Holz verarbeiteten.

Erste Rathenower Möbelfabriken

Aus einer 1803 veröffentlichten Berufeliste (Wagener 1803) ist bekannt, dass damals schon acht Tischlermeister in Rathenow tätig waren. Sie fertigten die benötigten Möbel und Einrichtungsgegenstände für die 4.080 Einwohner und 677 Militärpersonen der Stadt an. Die eigentliche Möbelbranche entwickelte sich vorwiegend aus Handwerksbetrieben, aber auch aus Sägewerken und Holzhandlungen. Zuerst stellte die Branche entsprechend der Nachfrage eine Vielfalt von Produkten her. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kam es zu Spezialisierungen und schließlich zur Gründung von Möbelfabriken, die später schrittweise von der Einzel- zur Serienfertigung übergingen. Dann trat die Selbstvermarktung in den Hintergrund und Möbelhändler übernahmen den Vertrieb. In Rathenow gab es in dieser Anfangszeit mehrere Hersteller, von denen einige nachfolgend kurz vorgestellt werden sollen. Die Geschichte des Kombinates „neuzera“ soll dagegen ausführlicher behandelt werden.

Die erste Rathenower Möbelfabrik wurde im Jahre 1856 von Wilhelm Pagenkopf und August Heller auf der Magazininsel gegründet und nannte sich „Rathenower Fabrik für Holzarbeit“ von Pagenkopf & Heller mit den Hauptsparten Möbel, Bautischlerei, Holzleisten und Parkett. Außerdem wurden zahlreiche weitere Handwerksleistungen angeboten, so z.B. die komplette Einrichtung von Restaurants (Abb. 1, 2). Die Fabrik ging etwa 1924 in den Konkurs. Im Oktober 1927 wurde die Nachfolgefirma „Rathenower Möbel & Leistenfabrik. GmbH“ am alten Standort gegründet. Sie stellte u.a. das Schlafzimmer „Margot“ und die Speisezimmer „Königsberg“ und „Danzig“ her. Nach mehreren Gesellschafter- und Geschäftsführerwechseln kam es auch hier im November 1929 zur Liquidation. Die Schlussbilanz wurde allerdings erst im Mai 1933 vorgelegt. Im Rahmen einer Zwangsversteigerung erwarb der Rathenower Unternehmer Hermann Duchrow im Jahre 1937 das Grundstück der ehemaligen Möbelfabrik für 54.000 RM und zog 1939 mit seinem Werkzeug- und Maschinenbau sowie dem Reißverschlusswerk aus der Mittelstraße 6a dorthin um, wo er alle Fertigungsabteilungen zusammenlegen konnte. Seitdem wurden dort über 50 Jahre lang Reißverschlüsse hergestellt.

Ab 1880 spielte in der Holzbranche auch die offene Handelsgesellschaft von Tischlermeister August Mowitz in der Großen Hagenstraße 4, ursprünglich Sägewerk, Holzhandlung und Holzleistenfabrik, eine große Rolle. In der Rathenower Zeitung vom 13.01.1883 verweist diese Firma auf ihr Furnierlager mit einer großen Auswahl an Birke, Eiche, Ahorn, Mahagoni, Nußbaum und Rosenholz. Zwischen 1880 und 1910 waren aber auch kleinere Möbelhersteller aktiv, so z.B. Wilhelm Henning (später Carl Gebhardt), Markt 14, Emil Marwitz, Stadthof 10, Adolf Reuscher, Berliner Straße 14 und Wilhelm Wollschläger, Große Milower Straße 22. Der Stadtbaurat Friedrich Sprotte bestätigte diesen Entwicklungsstand, indem er im Jahre 1923 schrieb, dass sich in Rathenow Anfang der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts eine „bodenständige Holzindustrie“ entwickelt habe.

Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde die Firma Mowitz in eine GmbH umgewandelt (Abb. 3) und spezialisierte sich mit ihrem neuen Eigentümer, den Grünewaldt-Hintz-Werken aus Berlin, auf gediegene Büromöbel und die Ausstattung von Sitzungssälen. Doch auch hier kam es 1926 zum Konkurs. Das Grundstück am nördlichen Schleusenkanal wurde anschließend von kleineren Möbelherstellern wie Spiering & Mahnicke in der Nr. 4 und Otto Siemer in der Nr. 5 sowie vom Städtischen Bauhof genutzt. In der Steinstraße 32 fertigte Carl Schultze in seinen „Werkstätten für Wohnungskunst“ etwa von 1925 bis 1938 ausgewählte Qualitätsmöbel an. Danach führte Heinrich Müller die Firma Carl Schultze bis zum Kriegsende weiter. Ab 1939 war die Möbelwerkstatt von Hermann Nagel in der Forststraße 3a auf dem Markt präsent.

Neuanfang

Am Ende des Zweiten Weltkrieges war die Stadt Rathenow weitgehend zerstört, insbesondere das Zentrum und die Ost-West-Achse. Es gab kaum noch arbeitsfähige Betriebe. Die sowjetische Kommandantur wollte dennoch die Funkwagen ihrer Nachrichtenabteilung reparieren lassen und beauftragte deshalb die Stadtverwaltung, zuverlässige Handwerker zu suchen, um die in der Nähe der Kasernen in der Bahnhofstraße gelegene und schwer zerstörte Tischlerei der „Richter Rathenow Landmaschinenfabrik GmbH“ wieder in Gang setzen zu lassen. Den Funkwagen folgten Um- und Ausbauarbeiten in den Kasernengebäuden sowie große Eingangstore für den militärischen Bereich, aber bald auch zivile Aufträge für den Wiederaufbau der Stadt. Mit Türen, Fenstern, Holzschuhen und Maurerkästen sowie mit den ersten Serien von Schul- und Küchenmöbeln sowie Stühlen und Tischen startete die Rathenower Holzindustrie in die Nachkriegszeit.

Da ab 1948 in der Landmaschinenfabrik wieder Dreschmaschinen hergestellt wurden, benötigte die vorübergehend dort angesiedelte Tischlerei mit inzwischen 33 Facharbeitern und acht Lehrlingen, inzwischen Teil des neu gegründeten kommunalen Baubetriebes „KWU“, einen günstigeren Standort. Nach einer Übergangslösung in der früheren Optikfirma Busch in der Bergstraße zog sie 1951 in Räume der ehemaligen Neustädtischen Schule am Schulplatz. Die Zuordnung zu einem Baubetrieb bewährte sich nicht, so dass 1952 aus der Tischlerei der „VEB Möbelwerkstätten Rathenow“ entstand (Abb. 4). Der besonders engagierte Betriebsleiter Arthur Papsdorf entwickelte den Betrieb zum anerkannten Möbelproduzenten mit einer Möwe als Logo. Der Handel forderte insbesondere Schreibtische, Küchenschränke, Kleinmöbel und Kantinentische, die in großen Stückzahlen hergestellt wurden. Ab 1953 kamen Wohnzimmerschränke der Modelle „Helga“ und „Möwe“ hinzu, aber auch Mikroskopschränke und -kästen für die einheimische optische Industrie.

Wachstumsphase

Die Serienproduktion und die spezialisierte Fertigung erforderten neue Maschinen und Ausrüstungen, die am Schulplatz kaum noch Platz fanden. Außerdem wurden die Räumlichkeiten der Möbelwerkstätten für die neu erbaute Schule benötigt. Einige Arbeitsgänge und die Lehrausbildung waren schon zu dem traditionellen Gewerbestandort Milower Landstraße verlagert worden. 1959 begannen die Vorbereitungen für den Bau einer neuen und erweiterungsfähigen Möbelfabrik an diesem Standort. Inzwischen war der Betrieb in den kreisgeleiteten „VEB Rathenower Holzindustrie“ mit Einbeziehung von örtlichen Sägewerken und der Sargfabrik Milow umgewandelt worden (Abb. 5). Die ersten drei Hallen mit ihren Verbindungsgängen wurden zwischen 1961 und 1964 fertiggestellt. Zum Gesamtprojekt gehörten auch Sanitär- und Umkleideräume, sechs Trockenkammern, ein Verwaltungsgebäude und die Rekonstruktion der Heizungsanlage. 

Das Jahr 1963 brachte mit einem großen Exportauftrag für die Sowjetunion erhebliche Umwälzungen und Herausforderungen mit sich. Nach Verhandlungen auf der Leipziger Frühjahrsmesse mussten noch im gleichen Jahr 5.000 Wohnzimmer des Typs „Rathenow 400“ hergestellt, mit einer Couchgarnitur, einem Esstisch und vier Stühlen komplettiert und auf Waggons transportgerecht verladen und ausgeliefert werden (Abb. 6). Die Zulieferungen kamen aus Zehdenick, Zernsdorf und Werder, was einen erheblichen organisatorischen Aufwand erforderte. Außerdem wurden für den Binnenhandel 3.400 Wohnzimmer bereitgestellt, so dass der Umsatz des Jahres 1963 rund 6,5 Mio. Mark erreichte.

Mit neuer, zum Teil schon untereinander verketteter Maschinentechnik für den Zuschnitt, die Beschichtung und das Schleifen der Möbelteile konnten in den Folgejahren rund 1.000 Wohnzimmer pro Monat und 25.500 Särge hergestellt werden. Für die schrittweise Umstellung auf Spanplatten musste 1967 ein neues Spanplattenlager gebaut werden. Im gleichen Jahr wurden die Möbelwerkstätten Borkheide bei Belzig und die Holzindustrie Nauen mit mehreren Betriebsstätten in den Rathenower Betrieb eingegliedert.

Kombinat „neuzera“

Auf Anweisung der Bezirksverwaltung Potsdam gründeten die fünf Möbelfabriken aus Neustadt, Neuruppin, Zehdenick, Zernsdorf und Rathenow im Januar 1970 das bezirksgeleitete Kombinat „neuzera“ mit Sitz in Rathenow (Abb. 7, 8). Man erhoffte sich mehr Effektivität und eine höhere Exportleistung durch die verbesserte zwischenbetriebliche Kooperation und Arbeitsteilung. Tatsächlich konnte 1972 das 100.000. Wohnzimmer des Modells „Rathenow 400“ an die Sowjetunion ausgeliefert werden, und der Umsatz des Kombinates stieg bis 1975 jährlich um 11 %. Dafür waren umfangreiche Rekonstruktionen im Fertigungsablauf und in der Energieversorgung sowie der Einsatz von importierter Technik wie z.B. Kurztaktpressen, Schleifmaschinen und Bohrautomaten notwendig. Das bisherige Exportmodell „Rathenow 400“ wurde 1974 nach 120.000 ausgelieferten Zimmern durch eine modernisierte Wohnzimmereinheit abgelöst, bei der die bis zu 5 Meter breite Schrankwand „Rathenow 74“ das Kernstück darstellte (Abb. 9). Von diesem Produkt wurden bis 1986 rund 213.000 Stück hergestellt und überwiegend in die Sowjetunion exportiert. Das Nachfolgemodell „Rathenow 86“ erreichte schon zwischen 1986 und 1988 weitere 30.000 Einheiten und konnte bis 1990 mit ähnlich großen Stückzahlen diesem Hauptabnehmer zur Verfügung gestellt werden.

Im Jahre 1979 wurden landesweit sieben zentralgeleitete Möbelkombinate gebildet und die bezirksgeleiteten Kombinate aufgelöst. Der Rathenower Betrieb wurde als VEB Möbelwerke „neuzera“ dem Möbelkombinat Berlin zugeordnet. Das brachte umfangreiche personelle Veränderungen mit sich, aber auch Chancen auf Investitionen für neue Fertigungslinien. Die Kooperationen mit den Möbelbetrieben des Bezirkes blieben traditionell auf einem hohen Niveau.

Privatisierungsversuche 1990-1995 

Wie alle volkseigenen Betrieb musste auch „neuzera“ zur Währungsumstellung am 1. Juli1990 eine Eröffnungsbilanz vorlegen und sich in eine Kapitalgesellschaft umwandeln. Die so entstandene „Neuzera Möbel Rathenow GmbH“ (Abb. 10) hatte durch die Investitionen der Jahre 1985 bis 1989 und mit neuentwickelten Schrankwänden (Abb. 11, 12) im Prinzip keine schlechte Startposition für die Marktwirtschaft. Auf den Fachmessen von 1990 und 1991 wurden die Modelle aus Rathenow mit großem Interesse begutachtet. Allerdings folgte bald die Ernüchterung, denn die bisher gefertigten großen Serien fanden keinen Marktzugang und für die stattdessen gewünschten Kleinserien war die Maschinentechnik überdimensioniert und nicht ausreichend flexibel. Außerdem fehlte eine leistungsfähige Vertriebsstruktur mit entsprechender Erfahrung. Trotz weiterer Neuentwicklungen blieben die Aufträge hinter den Erwartungen zurück. Die Treuhandanstalt als Eigentümerin setzte verschiedene Unternehmensberater als Geschäftsführer ein, die mit der Aufgabe überfordert waren und nicht im Betriebsinteresse handelten. Sie ignorierte auch die von den Neuzera-Leitungskräften entwickelten Management-Buy-Out-Konzepte und verkaufte schließlich den Betrieb an eine holländische Beteiligungsgesellschaft. Diese wurde von einer seriösen Auskunftsdatei als „Papierfirma“ bewertet. Die vereinbarte Pacht wurde nie entrichtet, so dass der Vertrag rückgängig gemacht werden musste. Ein zweiter Verkauf scheiterte ebenfalls, so dass ein Insolvenzverfahren 1994 und die Gesamtvollstreckung 1995 nicht mehr abzuwenden waren. Damit endete nach 140 Jahren die Möbelherstellung in Rathenow.

Quellen

BLHA, Grundbücher, Akten des Amtsgerichts Rathenow, des Landes Brandenburg und des Bezirkes Potsdam.

Kreis- und Verwaltungsarchiv Friesack, Adressbücher und Bauakten.

Privatarchive der Zeitzeugen Willi Schmidt, Karl-Hermann Fischer und Fritz Peschka.

Literatur

Wagener, Samuel Christoph: Denkwürdigkeiten der churmärkischen Stadt Rathenow. 1803. [Siehe: Hier]

Coch, Werner mit Willi Schmidt, Karl Hermann Fischer und Fritz Peschka: Die Rathenower Möbelindustrie mit ihrem Schwerpunkt „neuzera“. Sonderausgabe Nr. 3 des Rathenower Heimatkalenders. Rathenow 2019.

Sprotte, Johann Friedrich: Deutschlands Städtebau. Rathenow 1923.

Abbildungsnachweis

Abb. 1: Rathenower Adreßkalender und Geschäftsanzeiger für das Jahr 1892.

Abb. 2: Kreis- und Verwaltungsarchiv Freisack, Briefkopf von 1902.

Abb. 3: Adreßbuch für Rathenow 1925.

Abb. 4: Rathenower Heimatkalender 1958.

Abb. 5-12: Coch, W. u. a.: Sonderausgabe Nr. 3 des Rathenower Heimatkalenders.

Empfohlene Zitierweise

Coch, Werner: Möbel aus Rathenow, publiziert am 14.03.2022; in: Industriegeschichte Brandenburgs, URL: http://www.brandenburgikon.de (TT.MM.JJJJ)

 


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