Baumblütenfest in Werder (Havel)

Baldur Martin

Werder – die Insel im Fluss: gut mit ihr, aber nicht so gut, von ihr zu leben

Zunächst konnten die Bewohner des malerischen Eilandes mehr schlecht als recht von den natürlichen Gegebenheiten leben. Indem die Lehniner Mönche den Werderschen die Rebkultur nahebrachten, hatte die Inselbevölkerung über Jahrhunderte endlich neben der traditionellen Fischerei eine beachtliche Einnahmequelle. Weinberge begrenzten bald zur Freude aller Schöngeister die Havel. Die Weinvermarktung in die nebenan wachsenden Großstädte wurde zum ertragreichen Wirtschaftsfaktor. Und für Werder wurde der Märkische Wein eine Marke.1

Unter den Reisenden auf der Reichsstraße 1 sprach es sich bald herum, wie beschwerlich und staubig der Umweg über die Baumgartenbrücke war.2 Es bürgerte sich ein, Werder zu durchqueren und die Fährangebote der Fischer zu nutzen. Auch das förderte den Warenabsatz der Insulaner.

Aber nichts ist für die Ewigkeit. Auch für die Werderschen änderten sich die Zeiten. König Friedrich Wilhelm I. bevorzugte Bier als Lieblingsgetränk, in den Weinbergen zeigten sich Abbauerscheinungen, ebenso taten Krankheiten und Schädlinge ihr Übriges. Mitte des 18. Jahrhunderts verlor der Weinbau seine Anziehungskraft. Die Werderschen halfen sich, indem sie, entgegen aller Regeln, auf die Sandberge passende Obstarten in die Lücken pflanzten. Da der Ablösungsprozess sich über Jahrzehnte hinzog, hatten die Weinbauern Gelegenheit und Zeit, sich mit den erforderlichen Anbaubedingungen und Standortverhältnissen für geeignete Obstgehölze zu beschäftigen. Das geschah, weil zunehmend existenzsichernd, immer intensiver. Aus dem Weinbauer wurde der Obstzüchter. Ein Begriff, der sich bei den Großstädtern als äußerst verkaufsfördernd erwies. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es dann soweit. Mit dem Weinbau war endgültig kein Staat mehr zu machen. Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelte sich der Obstbau mit Wucht, und er veränderte prägend die Landschaft. Aus Obstparzellen auf der Insel und den Höhenzügen entstanden ausgedehnte Obstanlagen.3 Selbst die adligen Großgrundbesitzer verpachteten ihre Flächen um Werder langjährig an interessierte Obstzüchter.4 Auch die Stadt stieg mit ein und verkaufte den Gemeindewald am Rande zu Kemnitz in mehreren Aktionen als Obstland. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts schwärmten Einheimische ebenso wie Städter von den sich ausbreitenden weißen »Blütenhainen« (Abb. 1).5 Die Werderschen setzten auf definierte Obstarten, wie Kirschen und Pflaumen, dazu später Pfirsiche und Strauchbeeren, schließlich noch Erdbeeren und Aprikosen.

Auch der Bedarf an Frischobst entwickelte sich in den naheliegenden Großstädten rasant. Die kurzen Wege zum Verbraucher taten ihr Übriges. Die im ganzen Sommer täglichen Transporte, zum Beispiel mit Kähnen, später mit der Bahn, wurden zur Legende. Die Werderschen erhielten in Berlin auf Dauer privilegierte Marktrechte, unter anderem an der Friedrichsbrücke aufgrund eines Privilegs von Friedrich II. oder unter den S-Bahn-Bögen am Alexanderplatz.6

Doch in den 1870er und 1880er Jahren verlangsamte sich die Entwicklung der werderschen Obstkultur, natürlich auf hohem Niveau. Die Flächenausweitung war ausgereizt. Durch die rasante Erweiterung Berlins verlagerten sich die Vermarktungsstandorte in die neu entstehenden Außenbezirke. Die Vorteile der Marktnähe gingen zurück. Groß- und Zwischenhändler unterbrachen den direkten Zugang zum Kunden und setzten die Erzeuger unter Preisdruck.7 Erfolgsgewohnt hatten manche Obstzüchter darauf verzichtet, auf den jungfräulichen Böden anbauhygienische Grundsätze stärker zu beachten. Man hatte nun immer mehr mit Nachbau- und Bodenmüdigkeit zu kämpfen. Auch die Kreditzinsen und Bodenpreise stiegen, die Kosten für den Aufwand insgesamt explodierten und führten zu sinkender Rentabilität. Die Obstzüchter versuchten sich vor allem der Konkurrenz zu erwehren. Mit der Werderschen Obstzüchtergenossenschaft war eine einheitliche Vermarktungsorganisation geschaffen worden, die 1895/96 mit 496 Mitgliedern ihren Höchststand erreichte und erfolgreich agierte. Was den Werderschen weiterhin entgegenkam, war der gute Ruf ihrer Erzeugnisse, die Marktfrische, die Kürze der Transportwege, die gute Bindung zu den Stammkunden und die Originalität des Obstangebotes.

Eine Idee – und die Werderschen waren beeindruckt, mit welcher Resonanz die Berliner darauf eingingen

Was schon in der Frühzeit des Booms fehlte, war eine schlagkräftige Standesorganisation als Interessenvertretung der Obstzüchter. Sie wurde am 28. September 1878 von dreißig weitsichtigen Obstzüchtern und deren Unterstützern als Obstbau-Verein Werder (Havel) gegründet, ab 12. Dezember 1919 Obst- und Gartenbau-Verein Werder (Havel), und heute noch vital wie eh und je. Er ging unter anderem offensiv in die Werbung, betrieb mit Unterstützung des Magistrats eine aufwändige Öffentlichkeitsarbeit und organisierte selbst eine Reihe von Obstausstellungen. In einer Sitzung am 23. Februar 1886 wurde angeregt, dem Überangebot von Himbeeren und Johannisbeeren dadurch Herr zu werden, dass man die Früchte selbst verarbeitete und zu Säften und Wein presste. Das war der Anfang der sich zunehmend ausdehnenden Hausindustrie. In diese Richtung ging auch am 13. März 1879 der Vorschlag des Obstzüchters Wilhelm Wels, ein lokales Blütenfest durchzuführen und dazu die Berliner einzuladen.8 Die Obstzüchter hatten längst bemerkt, dass es die Berliner, organisiert in Vereinen oder privat mit Kind und Kegel, hinauszog aus den neu entstandenen, dicht bebauten Stadtvierteln, um Sonne, Seen und das blühende Grün der Landschaft in Geist und Seele aufzusaugen. Der erste gewählte Vorstand unter dem Weinbergsbesitzer Eduard Kärger und seinem Stellvertreter Friedrich Schnioffski reagierte zunächst überrascht und skeptisch. Bis zur Vorbereitung eines Blütenfestes im laufenden Jahr blieben noch maximal sechs bis sieben Wochen. Die Befürworter argumentierten, dass sowieso eine größer werdende Berliner Gästeschar die Blütenstadt spontan überrollen würde. Und so wurde beschlossen, den Versuch zu wagen und in allen Berliner Zeitungen Reklame zu machen. Er wurde zum Mythos.

 Der unerwartete Erfolg war überwältigend und verblüffte die Obstzüchter. Über 50.000 Berliner sollen in dem Jahr vorwiegend mit der Bahn gekommen sein. Sie zogen vom Bahnhof aus durch die Blüten geschmückte Stadt und konsumierten das Werdersche Bier an Ständen hinter den Gartentoren. Und die Begeisterung der Berliner und Potsdamer hielt an. 1883 kamen allein in den letzten acht Blütentagen noch über 20.000 Gäste und erfreuten sich am Anblick der zu Tausenden mitten in der Stadt blühenden Kirsch- und Pflaumenbäume. Für die damalige Zeit war es schon bemerkenswert, dass der Obstbauverein Tafeln aufstellte mit dem Hinweis »Bitte schützt die Vögel und hütet die Nester.«9 Dafür erhielt er den Dank aller Obstzüchter. Die Werderschen bemühten sich überhaupt, gute Gastgeber zu sein. Zunächst in ihrem bescheidenen Rahmen mit Schmalzstullen und Bier, ab 1886/87 mit selbstgepressten Säften und im folgenden Jahrzehnt mit selbstgekelterten Werderschen Obstweinen. Letztere wurden von da ab zum Renner, jedoch nicht immer zum Vorteil der Festkultur.

Je mehr sich das Fest bis auf zwei Wochenenden ausdehnte, umso mehr hatten die Obstzüchterfamilien ihre liebe Not, es zu beherrschen. Natürlich profitierte Werder von den enormen Zuzügen in die Großstadt Berlin von 0,9 Millionen Einwohnern 1871 auf 2,7 Millionen 1900, hatte aber bereits bis zur Jahrhundertwende mit vielen Misslichkeiten zu kämpfen. Es war also schon damals nicht das immer feuchtfröhliche Blütenfest, wie häufig in Legenden kolportiert. Schon das Jahr 1891 war geprägt durch Hungersnöte infolge einer Missernte. Der Regierungspräsident forderte Ernterapports und die Obstzüchter zur Verwertung von nicht verkaufsfähigem Obst auf. Das führte im Folgejahr zur Anschaffung einer ersten größeren Presse und zum Beginn der Obstweinerzeugung. Auch die Blüte kam häufig nicht zu der Zeit, wie sie erwartet wurde: Am 19. April 1894 setzt sie sehr früh ein, am 2. Mai 1896 war sie durch kühles Wetter noch gut im Gange. Überhaupt gab es nach 15 Jahren viele Klagen über das Fest: über »schlecht behandelte Biere und mangelhafte, aber teure Speisen« oder »die nicht fertige Potsdamer Straße ist ein staubiges Vergnügen«.

Das Baumblütenfest wird eines der größten Volksfeste in Deutschland

Obwohl sich der Obstbauverein bereits 1884 gegen die zunehmende fremde Konkurrenz gewehrt hatte, fühlten sich die Besucher auch zehn Jahre später noch belästigt durch »dutzende fremder Obstverkäufer, blütenfeilbietende Kinder, Leierkastenspieler, Krüppel und Bettler«. Die Berliner lockten aber solche Meldungen wie, dass am 2. Mai 1896 sich in überfüllten Extrazügen bis zu siebzehn Personen in einem engen Coupé drängeln mussten, oder dass der Kronprinz am 16. Mai 1900 zu Pferde noch nachträglich und fast unbemerkt zur Blüte erschien.

Die Klagen setzten sich aber auch in den folgenden Jahren fort. Nun ging es um die mangelhafte Qualität der Obstweine. Durch Lebensmittelkontrollen der Polizei wurde das Versetzen der Weine mit Salicylsäure nachgewiesen. Unabhängig davon stiegen Mitte der 1890er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg ständig die Besucherzahlen. Inzwischen waren es die in Berlin etablierten Mittelschichten, die es sich leisten konnten, mit Kind und Kegel per Bahn und Schiff in die Blüte zu ziehen und dort den Ton anzugeben. Es wurde zum großen Vergnügen, beim Obstwein so richtig ›die Sau rauszulassen‹ (Abb. 2). Natürlich stiegen damit die Ansprüche. Jetzt kam die Zeit der Großgaststätten, die sich um die Jahrhundertwende auf dem Höhenzug etablierten, zuerst die Wachtelburg, dann die Bismarckhöhe, es folgten die Friedrichshöhe und der Rauenstein, etwas unscheinbarer die Gerlachshöhe am Marienweg. Alle glänzten und warben massiv mit Gartenrestaurants, großen Sälen, »hervorragender« Gastronomie und Fernsichten bis nach Potsdam und Berlin. Bei Dreien gehörte auch ein Schiffsanleger dazu. Das Treiben auf den Höhen umgaben bald unzählige Geschichten und Legenden.

Die Berliner strömten in immer größeren Scharen nach Werder. 1899 waren es am ersten Sonntag 40.000 Gäste. 1906 wurde der Besucherrekord vor dem Ersten Weltkrieg erreicht. 1902 gab es 55 private Keltereien, schon bald, ab 1905, folgte die industrielle Herstellung durch Obstverwertungsfirmen wie »Lendel« (Abb. 3) oder »Güssefeldt und Wappler« als zweckmäßiges Mittel gegen die Obstschwemmen.10 Das »Werder Obst« und die »Werderschen Johannisbeer-, Erdbeer- und Kirschweine« hatten sich als Marke festgesetzt. Worauf man heute noch stolz verweist.

Man dichtete darüber und fast alle berühmten Berliner Komponisten wie Paul Lincke oder Jean Gilbert komponierten Lieder. Auch Fred Raymond schwärmte »in Werder beim Johannisbeerwein«. Dieser Massenansturm zeitigte natürlich zunehmend negative Seiten. Ein Besucher beschrieb die Situation in der Stadt 1907 so: »Ich habe nie so zahlreiche und schwer Betrunkene gesehen wie dort an einem Sonntagabend«, und er sprach von einem »Trinkerfest ersten Ranges«. Auch die Polizei hatte mit der Schlichtung und Vermeidung von groben Verkehrsstörungen vollauf zu tun, und so weiter und so fort. Die Stadtverwaltung war drauf und dran drastisch einzuschreiten. Da kam der Erste Weltkrieg, und alles wurde anders.

Zunächst schwelgte man in Zuversicht. Noch glaubte man, der Krieg würde ein kurzer sein. Der Baumblüten-Ausflug wäre eine Möglichkeit, vom aufkommenden Unheil abzulenken. So hieß es 1916: »Am ersten Osterfeiertag kamen circa 11.000, am zweiten circa 19.000 Gäste bei strahlender Sonne. Am Sonntag nach Ostern kamen noch mal circa 27.000 Gäste.« Aber bereits im September desselben Jahres erfolgte die radikale Änderung, und es wurden die Äpfel, Zwetschgen und Pflaumen zur Sicherstellung der Marmelade für das Heer beschlagnahmt. Die Obsternte musste weitgehend ohne Zucker bewahrt werden.11 Von da an lockte die Berliner nicht mehr die Blüte, sondern nur noch das Obst. Jetzt blühte die Hamsterei in »unglaublichem Umfang« mit über 100 Zentnern pro Tag. Bepackt mit »Körben, Rucksäcken, Kisten und Kartons« warteten die Menschen vor den Gehöften und Obsthöfen. Das Regierungspräsidium schätzte die »Gefahr als ungeheuerlich und verderblich« ein. Und für die Obstzüchter wurde das Ganze zu einer außerordentlichen Loyalitätsprobe gegenüber den Regierenden. Aber bereits im Sommer 1919, als das Unheil überstanden war, wurde das Verarbeitungsverbot von Obst zu Obstwein wieder aufgehoben. Der fast vollständige Neustart der Baumblütenfeste konnte beginnen. Der Obstbau entfaltete sich mit viel Optimismus schwungvoll zu neuem Leben. Mit Verlusten hatte er durchgehalten.

1921 wurden am ersten, wieder richtigen Sonntag im Blütenrausch über 44.000 Fahrkarten für die Anreise zu Wasser oder Bahn verkauft. Tausende reisten auch per Auto an. Das »eigentliche Frühlingsfest des Berliners« wurde zum Fest des Mittelstandes. »Es stören nur die vielen Entgleisten.« Das Auf und Ab von überschwänglicher Begeisterung und Empörung hielt die kompletten Zwanziger Jahre und bis zum Anfang der Dreißiger an. Die Stern-Schifffahrt fuhr stündlich; im April 1927 wurde die berüchtigte Rutsche von der Friedrichshöhe eröffnet, mit der die Betrunkenen zu Tale befördert wurden; der Film bemächtigte sich der Sujets unter anderem mit dem Stummfilm »In Werder blühen die Bäume« oder dem Dokumentarfilm »Baumblütenzeit in Werder«. Ein strenger Winter und die Weltwirtschaftskrise 1929/30 verstärkten die Sucht nach Ablenkung vom Elend und nach kurzlebigem Vergessen. Die Metapher von der »Blütenschlacht von Werder« machte die Runde: In den übervollen Vorortzügen saßen die Menschen in den Gepäcknetzen, alle zwei Meter fand sich in der Stadt ein Obstweinstand, der Wein wurde auch in Flaschen zum Umhängen in Netzen verkauft. »Abends Finale im Suff«, bei etwa 12.000 Gästen!

Und dann das, 1933: »Die Reichsregierung kommt zur Baumblüte. 12:00 Uhr mit einem Dampfer kommend mit SA- und SS Führern auf die Friedrichshöhe, wo sie das Mittagsmahl einnahmen.« Der erlebte Blütenrummel muss den Herrschaften ziemlich übel aufgestoßen sein. Ein Sonderdruck des »Völkischen Beobachters« vom 1./2. April 1934 mit einer Situationsbeschreibung des Blütenfestes 1933 rechnete scharf mit dem »unwürdigen, lärmvollen Bild in den Straßen Werders« ab. »Das ist vorbei.« Die Gauleitung der NSDAP hatte vom Bürgermeister Dr. Bredfeldt eine »Wiederbelebung und Vertiefung des deutschen Brauchtums« gefordert. Dieser, ein überzeugter Nationalsozialist, rief als Ersatz zum ersten Kirschenfest auf. Ein neues Trachtenkleid wurde kreiert und musste von der Kirschkönigin und allen Verkäuferinnen getragen werden.12 Als Dr. Bredfeldt 1936 kein Bürgermeister mehr war, verschwand auch mit allem Drum und Dran das Kirschenfest wieder. Es gab aber neue Varianten, zum Beispiel im gleichen Jahr ein »Frühlingsfest in Werder«, bei dem vom Gauleiter persönlich »die erste Feierstätte der Kurmark geweiht wurde«. Als Freilichtbühne am Stadtpark hatte man jedoch bereits nach zwei Jahren keine richtige Verwendung mehr für sie. Das Baumblütenfest aber nahm in bescheidenem Rahmen wieder Fahrt auf. Auch während des Zweiten Weltkrieges. Am 1. Mai 1942, dem ersten Blütensonntag, kamen zum Beispiel 25.000 Gäste, auch ohne Obstweinausschank. Die »Heimatfront« sollte bei Laune gehalten werden.

1945 kam mitten in der Blütenzeit für Werder die ›Stunde Null‹, und die Stadt konnte zum Glück kampflos übergeben werden. Die Rote Armee marschierte ein und nahm den größten Teil des Territoriums und der Innenstadt in Besitz. Niemand dachte an ein Blütenfest. Und wieder kamen die Berliner, diesmal mit Tauschobjekten aus ihrer verbliebenen Habe. Es herrschte ein verständlicherweise riesiger Bedarf an Obst und Gemüse, und so manches KPM- Porzellangeschirr wanderte bei dieser oder jener Obstzüchterstochter in die Aussteuer und erinnert die Familie noch heute an die Zeit. Dann folgten die Hungerjahre 1947/49. Noch Anfang der Fünfziger Jahre wurde der Obstabsatz durch ein straffes Ablieferungssoll stark reglementiert, das aber illegal umgangen wurde, unter anderem durch viel Nebenerwerb. »Blüten- und Weinfeste« wurden nur in bescheidenem Rahmen mehr mit Fahnen, Transparenten, Aufstellern und so weiter als mit Obstwein gefeiert. Die – vor allem Westberliner – Gäste kamen aus langer Gewohnheit »in´t Grüne«.

Im Oktober 1961 verblieben mit Abschluss der »sozialistischen Umgestaltung« nur noch 1.500 Quadratmeter für die »individuelle Produktion« in Privathand. Die Obst-Aufkaufstellen zahlten mit staatlicher Stützung und termingerecht hohe Erzeugerpreise, die oftmals weit über den Verbraucherpreisen lagen. Das Interesse an der Obstweinerzeugung war dadurch gering. Ab 1961 fehlten die vorher ausschlaggebenden Gäste aus dem Westberliner Hinterland. Erst 1965 würdigte die Post mit einem Ersttagsbrief offiziell die Eröffnung der Baumblüte und drückte damit die staatliche Anerkennung aus. Trotzdem war die private Herstellung von Obstwein in den kommenden Jahrzehnten kaum erwünscht. Unter staatlichen Zwängen wurde von den volkseigenen Betrieben Massenware – die Sorten »Domino« und »Kavalier« – produziert. Die Baumblüte wurde als »lokales Volksfest« gefeiert, war aber arm an Tradition, und die Beteiligung der Einheimischen war kaum gegeben. Erst ab 1973 konnten die Westberliner wieder nach Werder, insgesamt kamen circa 10.000 Gäste. Und erneut geriet das Fest im Laufe der Jahre außer Kontrolle. Nach einer für DDR-Verhältnisse ungewöhnlichen Eskalation durch Jugendliche 1977 auf der Friedrichshöhe fand das Blütenfest in den Folgejahren hauptsächlich auf der Insel statt. Über die Brücke konnte der Zugang durch alle zur Verfügung stehenden einschlägigen Organe gesichert werden.

Zu einem Höhepunkt wurde von offizieller Seite 1979 das 100. Baumblütenfest, sehr opulent und mit einem aussagekräftigen historischen Festumzug (Abb. 4). In den Jahren bis zur Wende wurden kleinere »Volksfeste der werktätigen Gärtner« mit Estradenkonzert, Zeichenwettbewerben der Schüler, Sportveranstaltungen und staatlich kontrolliertem Obstweinangebot organisiert. Erst 1989 gab es wieder eine Baumblütenkönigin. Der Gästezustrom blieb jedoch überschaubar.

Und dann kam die Zeit der Wende. Wieder hatten die Werderschen andere Sorgen. Die Diskussion um neue Möglichkeiten, aber auch Risiken für das Wiederbeleben der Blütenfeste wogte hin und her. Würden die Berliner zurückzuholen sein? Doch die Berliner lösten das Problem wieder auf die ihnen eigene Weise. Lange Pkw-Kolonnen bewegten sich, vor allem an den Wochenenden, über die Fernverkehrsstraße 1, um an den Straßenrändern das Obst, welches die Erzeuger freigiebig feilhielten, aufzukaufen. Dabei wurde auch immer wieder sehnsüchtig nach der Baumblüte und den »leckeren Obstweinen« gefragt. Kurz entschlossen reagierte der gut eingespielte Karnevalsclub und organisierte am 29. April 1990 auf der Friedrichshöhe einen gut besuchten Gala-Blütenball. Damit war der Damm gebrochen und das 111. Blütenfest konnte loslegen. Kulturzentrum war die gesamte Inselstadt. In den folgenden Jahren wurde der Zulauf immer gewaltiger, mit unterschiedlichen Partnern und Sponsoren, 1992 zum Beispiel mit der Berliner Volksbank. Auch die Bayern waren »Partnerland«. Man schätzte circa 300.000 Gäste und war absolut überfordert. Durch »auf Krawall und vor allem auf Brutalität ausgehende Gruppen« gab es zwei Tote und 21 Schwerverletzte.13 Die ganze Stadt war geschockt und die Verwaltung reagierte. Zukünftig sollte das Baumblütenfest »in Familie« als verlängertes Wochenende und ohne Großveranstaltungen gefeiert werden.

Da die Masse der Großstädter auch weiterhin nach Werder strömte, war es immer schwieriger, die Balance zu halten zwischen fröhlich-gemütlich feiern und übermäßigen Auswüchsen. Das schafften die Veranstalter schließlich durch Erfahrung und wachsende Professionalität. Ab 1995 wurden zur Entlastung der Innenstadt erste Fahrten in die Obstgärten angeboten. Die jährlichen Festumzüge am ersten Blütensonnabend wurden immer üppiger liebevoll ausgestaltet. Mehr als achtzig Gruppen stellten die teilnehmenden Vereine, Gemeinschaften und Gewerke.

Schon nach kurzer Zeit fand sich zu den Blütenbällen immer mehr hochrangige politische und künstlerische Prominenz ein. Mitte der Neunziger Jahre wurde das Baumblütenfest ausgeschrieben und von einem zweigeteilten Management übernommen. Dem gelang es sehr gekonnt, jedes Jahr Mäßigung zu versprechen, es aber zu immer aufwändigeren und umfangreicheren Festen zu führen, die die Kapazitäten der kleinen Stadt zunehmend überbeanspruchten. Langsam stieß das Mitmachinteresse der Bewohner in der Innenstadt und auf der Insel an seine Grenzen. Erste Mahnungen wurden beiseite gewischt. An die Sicherheit wurden immer größere Anforderungen gestellt. Die Aussage einer Taxi-Chauffeurin fasste das ganze Dilemma zusammen: Vier junge Männer stiegen in die Taxe, halbvolle Obstweinflaschen in der Hand. Frage: »An welche Stelle der Baumblüte soll ich sie denn hinfahren?« Einer: »Wat heest hier Baumblüte, wat is denn des? Interessiert uns nich. Saufen wolln’ mer. Fahren se uns dahin, wo et wat zu trinken jibt!« Bis zu sieben Bühnen waren zwischen Schützenhaus auf der Insel und Bismarckhöhe aufgebaut, teilweise profihaft betrieben, unter anderem vom Versandhaus Quelle und verschiedenen regionalen Rundfunksendern. Das 120. Blütenfest wurde zu einem Höhepunkt: »Blüten, Obst und Wein – zum 120. Fest lädt Werder ein«. Zahlreiche Unternehmer vor Ort unterstützten es. Gleichzeitig gab es bei Krawallen 24 Festnahmen. Auf dem Blütenball 2001 sprach Ministerpräsident Stolpe von einem »Brandenburgischen Volksfest«.14 Das zukünftige Niveau sollte spürbar angehoben werden. Die Einwohner freuten sich 2006 besonders, dass zum ersten Mal wieder der Turm der Bismarckhöhe bestiegen und die großartige Havellandschaft bis nach Berlin genossen werden konnte. Die Dimensionen, die das Fest von der Veranstalterseite her angenommen hatte, spiegelten sich darin wieder, dass es in diesem Jahr mit 85 Auftritten, 205 Musikern, neun Bühnen, 450 Gastronomen und Schaustellern lockte. Welch ein Angebot, und das mitten im Zentrum einer belebten, wachsenden und sonst liebenswürdigen Kleinstadt (Abb. 5).

Nicht jedem gefiel das, und so bildete sich 2008 »Die Initiative zur besseren Verträglichkeit des Baumblütenfestes für die Inselstadt«, die für Sonntag, den 31. August, 11:00 Uhr zur Podiumsdiskussion einlud.15 Anliegen war eine niveauvollere Gestaltung. Auch in den folgenden Jahren blieb sie aktiv, nicht immer zur Freude der Veranstalter. So ging es die nächste Zeit weiter. Mal voller Trubel und Eskalation, mal ohne Rockmusik und sehr ruhig und entspannt wie 2010, als 120 Höfe und Gärten geöffnet hatten und die Gäste sich wie immer unter den blühenden Bäumen pudelwohl fühlten. Das war auch das Jahr, in dem von den Stadtverordneten einstimmig ein neues Blütenkonzept angenommen wurde. Es war darauf ausgerichtet, dass es viel ruhiger zugehen sollte, zum Beispiel mit mehr regionalen Angeboten, einer Kinderbühne, Schutz der Häuser vor Vandalismus und gegen Betrunkene mit einem veränderten Einsatzplan der Polizei. Auch das war aber nur von kurzer Dauer. Schließlich wollte der Veranstalter mit seinem großen Aufwand verständlicherweise rentabel sein. Ab 2017 kamen aufgrund der terroristischen Bedrohungen sich ständig ausweitende Sicherheitsanforderungen der Polizei und Ordnungsbehörden hinzu. Während der Festtage wurde die Kernstadt bis nach 22:00 Uhr fast zur geschlossenen Stadt. Die zunehmende Eskalation von allen Seiten erreichte bis 2019 ihren Höhepunkt. Im Ergebnis verweigerte die Bürgermeisterin eine Neuausschreibung, beginnend ab 2020. Das Fest wird bis zur Klärung der Verhältnisse und unter Mitbestimmung der Bevölkerung abgesagt. Die Corona-Pandemie kommt direkt rechtzeitig zu Hilfe!

Werder (Havel) ist dabei, sich das Blütenfest wieder zu eigen zu machen

Nach der Absage durch die Stadtverwaltung erschütterte zunächst ein Sturm sehr unterschiedlicher Meinungen und Aussagen ganz Werder. Es reichte von maßloser Enttäuschung und Ängsten der Nutznießer über die voraussehbaren Verluste bis zu offensichtlicher Genugtuung der gestressten Betroffenen. Es gab viel ernsthaftes Bedauern über das Wegbrechen lieb gewordener Gewohnheiten. Da waren zum Beispiel die regelmäßigen Treffen mit Verwandten und Bekannten auf Gartenmöbeln oder Strohballen unter den blühenden Obstbäumen. Wobei die Lieblingssorte Obstwein besonders schmeckte. Die seit den neunziger Jahren im Wettbewerb um die »Goldene Kruke« jährlich überreichten Bronze-, Silber- und Goldmedaillen waren eine gute Hilfe zur Auswahl. Andererseits gab es zum Teil wüste Anwürfe an die Verantwortlichen und Drohgebärden bis zur versuchten Erpressung, wenn etwa fünfzig Trucks der Veranstalter vor dem Stadthaus aufgefahren waren. Die Bürgermeisterin tat das einzig Richtige und ließ sich nicht beirren. Bis die Sachlichkeit langsam wieder einkehrte. In der Verwaltung ging man daran, zunächst die unterschiedlichen Meinungen und Vorschläge der Bürger mit den Vorstellungen der Abgeordneten und fachlich Verantwortlichen in Einklang zu bringen. In einem mehrstufigen Verfahren im Rahmen eines Bürgerdialogs wurde Gelegenheit zur Diskussion, Bewertung und positiver Kompromissbildung gegeben. Das oberste Ziel war, das Blütenfest so zu erhalten, wie es vor 140 Jahren ins Leben gerufen wurde: ein Fest für die Großstädter, die nach der langen Winterzeit die aufblühende Natur neu erleben und hautnah in den Obstgärten zusammen mit Freundschaften genießen oder dabei neue Bekanntschaften schließen wollen. Aber auch die innerstädtische Bevölkerung muss nicht mehr nur der Leidtragende sein, der sich wohl verhalten soll. Sie soll wieder mitgestalten, teilhaben, sich wohlfühlen und Freude und Stolz an »ihrem Fest« empfinden. Inzwischen wurden die vielen Ideen zu einem Konzeptvorschlag zusammengefasst und den Stadtverordneten zur Diskussion und Beschlussfassung übergeben. Anliegen muss sein, dass das hervorragende Ambiente dieser Stadt nicht nur eine Grundlage für ein gewinnbringendes Geschäftsmodell für meist Außenstehende sein kann. Werder wird sich bemühen, ein guter Gastgeber zu sein.

Anmerkungen

1 Roland Fröhlich, Kleine Chronik des Werderschen Weinbauses (1. Teil), in: Blütenstadt Werder (Havel). Heimatgeschichtliche Beiträge 2000, S. 58– 62.

2 Ferdinand Ludwewig Schönemann, Diplomatische und Topografische Geschichts-Beschreibung der Churmärkischen Mediat-Stadt Werder, in: Hartmut Rhön (Hg.), … ernsthafte Beyträge zur Geschichte der Stadt Werder … Ferdinand Ludewig Schönemanns »Diplomatische und Topographische Geschichts-Beschreibung der Churmärkschen MediatStadt Werder« und Johann Adolph August Haenschs »Beschreibung der Stadt Werder an der Havel und der Dörfer Glindow und Petzow 1852«, Berlin 2012, S. 25 –92, hier S. 31.

3 Karl Lehmgrübner, Aus der Familienchronik des verstorbenen Stadtältesten Karl Lehmgrübner, Potsdam, Werder (Havel), Manuskript im Stadtarchiv Werder (Havel), ca. 1850, S. 81.

4 Baldur Martin, Die Erzeugung und Verwertung des Obstes, in: Ders./Klaus-Peter Meissner/ Klaus Froh (Hgg.), Werder (Havel), 700 Jahre Ortsgeschichte, Bd. 5: Obstbau und weitere Bereiche des Gartenbaus, Potsdam 2015, S. 11–98, hier S. 42.

5 Gustav Petzold (Hg.), Führer durch Werders Blütenhaine und deren Umgebung, Werder an der Havel 1913, Titelblatt.

6 Franz Dümichen, Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeinde. Angelegenheiten der Stadt Werder 1895/96 –1898/99, S. 110; 1903/08, S. 122.

7 Ders., Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeinde. Angelegenheiten der Stadt Werder 1899/1902, S. 148.

8 Der folgende Text beruht im Wesentlichen auf Baldur Martin, Versuch einer Chronologie der Baumblütenfeste in Werder (Havel), Werder (Havel) 2019, dort auch die Zitate. Auf detaillierte Nachweise wird weitgehend verzichtet. Der Titel erschien infolge der Auseinandersetzungen um das Scheitern der Neuausschreibung für die Blütenfeste ab 2020.

9 Ebd., S. 8.

10 Ebd., S. 16.

11 Ebd., S. 20f.

12 Ebd., S. 26.

13 Ebd., S. 34.

14 Ebd., S. 40.

15 Ebd., S. 43.

Abbildungsnachweis

Abb. 1-5 Autor

 

 

Der Beitrag erschien in:

Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 247-258.


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