Brandenburger Weg

Wolf-Rüdiger Knoll

Im Januar 2021 gab das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg eine Pressemitteilung heraus, die sich der Situation der Kulturszene vor dem Hintergrund der weltweiten Corona-Pandemie widmete. Unter dem Motto »Kultur und Corona – Der Brandenburger Weg« appellierte die zuständige Ministerin Manja Schüle, die Brandenburger Kultureinrichtungen zu unterstützen. Dieser Aufruf, der von zahlreichen Kulturschaffenden und leitenden Angestellten insbesondere landeseigener Kultureinrichtungen unterzeichnet wurde, enthielt neben Aspekten der Gesundheitsvorsorge auch die Botschaft der Solidarität und der gegenseitigen Rücksichtnahme.1 Wenige Monate zuvor – im November 2020 – hatten die Kreis- und Regionalverbände des Landesbauernverbandes Brandenburg mit 93 Prozent einer neuen Strategie zur zukünftigen Ausrichtung der Landwirtschaft zugestimmt. Basis dieser Strategie war das zuvor erstellte Papier »Der neue Brandenburger Weg – Zukunftsperspektiven für die Landwirtschaft 2030«.2 Zu den Kerninhalten des Papiers zählen Lösungsstrategien für mehr Nachhaltigkeit, um die regionale Ernährungsverantwortung für die Hauptstadtregion Brandenburg-Berlin zu stärken. Eine höhere Biodiversität in der Acker-und Pflanzenzucht sowie eine ökologischere Nutztierzucht sollten den Landwirten zugleich neue Zukunftsperspektiven eröffnen.3

Diese beiden Beispiele zeigen, dass der Begriff Brandenburger Weg bis in die Gegenwart mit jeweils unterschiedlichen Themen aufgeladen wurde und wird. So ermöglicht die Definition des Brandenburger Weges durch die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung ein weiteres Deutungsnarrativ. Auf ihrer Internetpräsenz erklärt sie: »Als ›Brandenburger Weg‹ wird eine politische Praxis bezeichnet, die sich nach 1990 im Land Brandenburg entwickelte. Das Ideal hieß dabei Konsensdemokratie. Um die dafür nötige Übereinstimmung der verschiedenen politischen Kräfte zu erreichen, sollten Landesinteressen wichtiger als Parteiinteressen sein.«4

Die hier beschriebenen Deutungsmuster zeigen abweichende inhaltliche Interpretationen und könnten mühelos weitergehend ergänzt werden. Dieser Umstand führt zu der Frage, was denn nun eigentlich unter dem Brandenburger Weg zu verstehen ist und wie dieser Begriff die politische Kultur Brandenburgs in den vergangenen Jahrzehnten geprägt hat. War und ist der Brandenburger Weg bis heute ein Erinnerungsort des kollektiven Gedächtnisses, und inwiefern stellt er einen historisch-sozialen Bezugspunkt für die Menschen in Brandenburg dar? Um diese Fragen zu beantworten, bedarf es zunächst einer historischen Einordnung der Begriffsgeschichte, an die sowohl eine positivierende, als auch eine kritische Reflexion seines Inhaltes anschließt. So lässt sich abschließend die Wirkmächtigkeit des Brandenburger Weges und seine Bedeutung als Erinnerungsort beurteilen.

Zur Genese des Brandenburger Weges Zwei

Monate nach der Wiedervereinigung, am 6. Dezember 1990, trat der neugewählte Ministerpräsident des Landes Brandenburg, Manfred Stolpe (SPD), vor die Abgeordneten des Potsdamer Landtages. Anlässlich seiner ersten Regierungserklärung beschrieb Stolpe die Eckpfeiler seiner zukünftigen politischen Agenda. Dabei betonte er: »Wir wollen, dass alle Menschen in Brandenburg die Chance haben, an der Zukunft unseres Landes mitzuarbeiten. Wir wollen ein Land aufbauen, in dem es Wohlstand und soziale Sicherheit für alle gibt, in dem die ökologische Verantwortung ernst genommen wird. Wir wollen gemeinsam ein Land aufbauen, in dem jeder und jede im Alltag erfahren kann, dass der Staat kein Moloch sein muss, der Freiheit erstickt und Widerspruchsgeist bedroht. Wir wollen ein Land aufbauen, das stolz sein kann auf seine Traditionen und Landschaften. Ich bin überzeugt: Wir haben große Chancen, wenn wir nüchtern und selbstbewusst unseren Brandenburger Weg gehen – gemeinsam mit anderen, aber durchaus nicht im Gleichschritt.« (Abb. 1)5 Mit der eigentlich eher unauffälligen Metapher des Brandenburger Weges – Stolpe nutzte sie im Rahmen seiner Regierungserklärung nur ein einziges Mal – wurde ein Begriff in die Welt gesetzt, der 1990 zunächst noch nicht die symbolische Aufladung hatte, die ihm später von verschiedenen Gruppen und aus unterschiedlichen Anlässen zugeschrieben wurde.

Tatsächlich stand Manfred Stolpe Ende des Jahres 1990 zunächst vor der Aufgabe, der Bevölkerung des wiederbegründeten Landes Brandenburg, das zuvor faktisch nur zwischen 1947 und 1952 existiert hatte, ein Angebot zur kollektiven Orientierung und Integration zu unterbreiten. Anders als die Bundesländer Thüringen und Sachsen konnte Brandenburg dabei nicht auf etablierte landsmannschaftliche Traditionsbestände zurückgreifen, war es doch – wenn auch als Kernland – stets nur politische Provinz Preußens gewesen und dies vor 1945 auch in gänzlich anderen territorialen Strukturen als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.6 Große Bevölkerungsverschiebungen in der Folge des Krieges sorgten zunächst dafür, dass 1949 ein Drittel aller Brandenburger – etwa 900.000 Menschen – als Zuwanderer galten. Zahlreiche alteingesessene Randberliner verließen zudem bis 1961 die Brandenburger Bezirke der DDR. Gleichzeitig sorgten industrielle Großprojekte wie das Eisenhüttenkombinat Ost, Schwarze Pumpe und das Petrolchemische Kombinat dafür, dass die Bewohner von Städten wie Eisenhüttenstadt, Cottbus oder Schwedt aus allen Teilen der DDR nach Brandenburg zogen – und blieben. Eine spezifische Brandenburger Identität hatte sich dadurch bis 1990 nicht herausbilden können. Gerade mit der Wiedervereinigung und der Angliederung Ostdeutschlands an das bundesdeutsche Verwaltungs-, Wirtschafts-, Politik- und Sozialsystem stellte sich jedoch die Aufgabe, die Identifikation mit dem eigenen Bundesland zu stärken. Dies hing nicht nur mit der im Verhältnis zur zentralistischen Struktur der DDR starken Stellung der Länder im föderalen System der Bundesrepublik zusammen. Eine kulturelle und politische Interessensprojektion und eine Differenzierung der abstrakteren ›ostdeutschen Identität‹ vor dem Hintergrund regionaler Besonderheiten konnten und sollten auch die Stellung der jeweils bevölkerungsmäßig relativ kleinen ostdeutschen Bundesländer im neuen politischen System stärken sowie eine Legitimationsbasis für das Handeln der Landesregierung schaffen.7

Daher verwundert es nicht, dass es zunächst die SPD war, die den Brandenburger Weg nach der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten inhaltlich neu interpretierte. Im April 1991 erklärte der damalige Landwirtschaftsminister Edwin Zimmermann (SPD) trotz der im Einigungsvertrag festgeschriebenen Regelung »Rückgabe vor Entschädigung«, an den bisherigen Eigentums- und Nutzungsrechten von landwirtschaftlichen Grundstücken und Gebäuden festhalten zu wollen. Verbunden mit dem Ziel der Förderung von umweltverträglichen, bodenabhängig wirtschaftenden bäuerlichen Betrieben und einer möglichst flächendeckenden und ökologisch verträglichen Landbewirtschaftung sprach Zimmermann dabei von einem Brandenburger Weg in der Landwirtschaft.8

Damit erfolgte erstmals eine inhaltliche Aufladung des Brandenburger Weges, der in den folgenden Jahren der ersten Legislaturperiode insbesondere vom Koalitionspartner FDP genutzt wurde, um landesspezifische Ansätze in verschiedenen Politikfeldern zu betonen.9 So nutzte die FDP die Metapher im Zusammenhang mit der Errichtung einer parlamentarischen Kontrollkommission, den Plänen zur Fusion Brandenburgs mit Berlin und im Rahmen der wirtschaftspolitischen Schwerpunkte der Landesregierung, in der der FDP-Politiker Walter Hirche das Amt des Ministers für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie bekleidete. Dabei erhielt der Brandenburger Weg allerdings noch keine normative Aufladung. Vielmehr diente er den Koalitionspartnern zur Beschreibung Brandenburger Eigenheiten.10 Diesem Verständnis folgte zunächst auch die Opposition im Potsdamer Landtag. Die PDS-Linke Liste verwendete den Begriff erstmals 1992, um die Hochschulpolitik der Landesregierung zu kritisieren.11 Auch mit Blick auf die Arbeitsmarktpolitik der Landesregierung, die mit der Initiative »Arbeit statt Arbeitslosigkeit« stark auf den Erhalt von Arbeitsplätzen sowie die Förderung des zweiten Arbeitsmarktes ausgerichtet war – hierzu zählten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Fortbildungen und Umschulungen –, sprach der Fraktionsvorsitzende der PDS-LL, Lothar Bisky, von einem Brandenburger Weg12. Die zweite Oppositionspartei – die CDU – sprach vom Brandenburger Weg hingegen eher in Bezug auf von der Landesregierung getätigte Äußerungen und um diese zu kritisieren.13 Im Dezember 1992 erklärte der CDU-Abgeordnete Karl-Heinz Kretschmer im Landtag, dass »Anträge der Opposition […] meistens – das ist nichts Neues – trotz des vom Ministerpräsidenten beschworenen toleranten Brandenburger Weges abgelehnt« worden seien. Damit bezog sich Kretschmer direkt auf eine Interpretation des Brandenburger Weges, die sich von landesspezifischen Inhalten hin zum Politikstil und seiner Vermittlung verschoben hatte. Diese Verschiebung hing eng mit den Besonderheiten der politischen Landschaft in Brandenburg zusammen.

Ideal einer Konsensdemokratie

Nachdem die Menschen in den ostdeutschen Bundesländern am 14. Oktober 1990 erstmalig aufgerufen worden waren, ein neues Parlament zu wählen, führte das Ergebnis der Landtagswahl in Brandenburg zu einer Besonderheit. Mit 38,2 Prozent wurde die SPD zur stärksten politischen Kraft im Potsdamer Landtag, während in allen anderen ostdeutschen Ländern die CDU stärkste Kraft wurde. Diese erhielt in Brandenburg aber nur 29,5 Prozent. Drittstärkste Fraktion wurde die PDS/Linke Liste mit 13,4 Prozent. Ebenfalls in den Landtag zogen Bündnis 90 (9,2 Prozent) und die FDP (6,6 Prozent) ein.14 Die auf der Basis dieses Ergebnisses geführten Koalitionsverhandlungen führten am 22. November 1990 – erstmalig überhaupt in der Geschichte der Bundesrepublik – zu einer Ampelkoalition aus SPD, FDP und Bündnis 90. Zuvor hatte der Landtag – ebenfalls als einziges ostdeutsches Bundesland – mit Manfred Stolpe am 1. November 1990 einen Sozialdemokraten zum Ministerpräsidenten gewählt.15 Stolpes Politikstil war stark auf Ausgleich und Kompromiss ausgerichtet. Diese Fähigkeiten hatte er sich während seiner Tätigkeit als Konsistorialpräsident der Ostregion der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg vor 1990 angeeignet, wobei er häufiger vor der Herausforderung stand, sich mit dem SED-Regime zu arrangieren. Nach der Friedlichen Revolution hatte sich Stolpe zunächst keiner politischen Partei zugeordnet und war erst im Juli 1990 der SPD beigetreten.16 Auch der Fraktionsvorsitzende der CDU, Peter-Michael Diestel, zuvor letzter Innenminister der DDR, war weniger stark auf politische Konfrontation bedacht, als dies etwa bei seinen ostdeutschen Parteikollegen in den übrigen Bundesländern der Fall war. Ähnliches galt für die führenden Vertreter der Partei Bündnis 90, Marianne Birthler und Günther Nooke.

Der von Manfred Stolpe verkörperte, auf Konsens oder zumindest Kompromiss ausgelegte Politikstil fand nicht nur zwischen den Mitgliedern der Landesregierung, sondern auch im parlamentarischen Raum und im Umgang mit der Opposition statt. Zahlreiche Gesetzesvorhaben wurden fraktionsübergreifend diskutiert und in den Landtag eingebracht.17 Insbesondere im Rahmen der Erarbeitung einer neuen Landesverfassung wurde auch die Opposition in die programmatische Arbeit eingebunden.18 Lothar Bisky beschrieb den Prozess der Verfassungsgebung in der Rückschau als Idealvorstellung konsensualer Politikgestaltung, die am 14. Juni 1992 zu einer Zustimmungsrate von 94 Prozent der an der Abstimmung teilnehmenden Brandenburger Bürger geführt hatte: »Wie wohltuend unterschied sich davon der Prozess der Verfassungsgebung im Land Brandenburg. Das Miteinander unterschiedlicher politischer Kräfte, die Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern, die sachkundige und zugleich zurückhaltende Mitwirkung von Wissenschaftlern, Richtern, Vertretern der Landesregierung und von anderen Sachverständigen wie auch der Vertreter von Gewerkschaftern, Verbänden und Vereinigungen – all das prägte den Prozess der Entstehung unserer Verfassung.« (Abb. 2)19

Insbesondere bei den das Land konstituierenden Gesetzen war es aus Sicht der Opposition zu einer effektiven Einbindung sämtlicher parlamentarischer Kräfte gekommen. Dies betraf unter anderem die Erarbeitung des Abgeordnetengesetzes, des Petitionsgesetzes oder des Verfassungsgerichtsgesetzes.20 Auch in der Kultur-, Wissenschafts- und Bildungspolitik erkannte Bisky in der ersten Legislaturperiode Möglichkeiten für konstruktive, parteiübergreifende Lösungen. Die vor allem im Ton weniger scharfe Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, die prinzipielle Bereitschaft zur Diskussion sowie ein im Vergleich mit den anderen ostdeutschen Bundesländern stärker auf Differenzierung angelegter Umgang mit der DDR- und SED-Vergangenheit wurden schließlich als eigenständige politische Kultur begriffen, die im Brandenburger Weg ihren Ausdruck fand.

Dieser wurde somit symbolisch aufgeladen und zugleich mit zwei regionalen Traditionslinien verknüpft. Einerseits fanden sich in der Konsensorientierung und der Akzeptanz anderer politischer Meinungen Elemente der viel zitierten Brandenburger Toleranz wieder. Andererseits boten die noch sehr lebendigen Erfahrungen einer offenen Streitkultur der Runden Tische während und nach der Friedlichen Revolution in der DDR einen Zugang zu einer neuen politischen Debattenkultur. So bezeichnete der aus West-Berlin stammende Staatssekretär im Wissenschaftsministerium, Jürgen Dittberner, die Treffen der Landesminister als Runden Tisch und hob dabei die Rolle Stolpes als Leiter des Kabinettes hervor: »Jede Diskussion dauert so lange, wie sie dauert. Erst, wenn wirklich keiner mehr reden mag, fasst Stolpe zusammen. Er findet stets den Kompromiss zwischen den Beiträgen der Kabinettkollegen. Ist der Kompromiss inhaltlich nicht möglich, so doch wenigstens im Verfahren.« (Abb. 3)21

Die positive Deutung des Brandenburger Weges als Idealvorstellung einer Konsensdemokratie wurde von den politischen Akteuren unterschiedlicher Parteien ex post wiederholt geäußert und gewürdigt. Aus Sicht Günter Nookes, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90 bis 1993, bot der Brandenburger Weg Vorteile, da das Vermeiden von Kontroversen und Diskussionen für eine kleine Fraktion wie Bündnis 90 eine Arbeitserleichterung bedeutet habe.22 Steffen Reiche, 1990 bis 2000 Landesvorsitzender der SPD, sah in ihm eine Möglichkeit der konsequenten und transparenten Vergangenheitsaufarbeitung. Und Heinz Vietze, ab 1990 Landesvorsitzender der PDS, sprach dem Brandenburger Weg eine positive Wirkung für die politische Auseinandersetzung im Land Brandenburg zu, da so schnell Stabilität erreicht worden sei.23 Im Rahmen der von den Fraktionen der CDU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen im Frühjahr 2010 beantragten Einsetzung der Enquete-Kommission »Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg« betonten einzelne Mitglieder der Kommission zudem, dass der Brandenburger Weg ein »Synonym für einen Weg politischer und gesellschaftlicher Innovation« gewesen sei, »der auf breiter demokratischer Grundlage unter Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger beruhte.« So seien »Parteiegoismen« vermieden und gemeinsam gelernt worden, die Vergangenheit zu bewältigen. Der Brandenburger Weg habe so die Chance eröffnet, sich historischen Vorgängen und persönlicher Verantwortung zu stellen, Lernprozesse in Gang zu setzen und eigene Positionen zu revidieren.24 Eine solche Deutung bildete allerdings keine unhinterfragte Konsensmeinung. Stattdessen ist der Brandenburger Weg in den vergangenen dreißig Jahren wiederholt kritisiert und in Frage gestellt worden (Abb. 4).

Kritik am Brandenburger Weg

Als prominentester Kritiker äußerte sich der Theologe und DDR-Oppositionelle Erhart Neubert im Rahmen seiner Gutachtertätigkeit für die Enquete-Kommission negativ über den Brandenburger Weg und seine Implikationen. Neubert, 1989 Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs, kritisierte, dass Konflikte in der ersten Legislaturperiode nicht (mehr) öffentlich ausgetragen wurden, wodurch ihre produktive Kraft verlorengegangen sei.25 Als Folge sei es nicht nur zu einer Entpolitisierung, sondern ebenfalls zu vergangenheitspolitischen Versäumnissen gekommen, die sich insbesondere um die Frage der Überprüfung der Landtagsabgeordneten auf MfS-Kontakte drehten. Zudem hob Neubert als negative Folge für die politische Kultur des Landes auch den Verzicht auf die Einrichtung des Amtes eines Landesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit hervor.26 Vor dem Hintergrund der ungelösten vergangenheitspolitischen Konflikte erklärte er daher im Jahr 2011, dass der Brandenburger Weg in dieser Hinsicht »gescheitert« sei.27 Mit Blick auf das konsensdemokratische Verfahren betonte Neubert, dass dieses in Ausnahmesituationen gerechtfertigt sei, aber dass derartige Modelle in gefestigten politischen Systemen oft genug dazu da seien, um Minderheiten »einzuordnen und anzupassen«.28

In eine ähnliche Richtung argumentierte Wolfgang Hackel (CDU), Mitglied des Brandenburger Landtages von 1994 bis 2004. Hackel betonte, dass zu viel Konsens für die Demokratie nicht förderlich sei und der Brandenburger Weg gerade deswegen kein Ideal eines demokratischen Politikverständnisses darstelle.29 Der Meinung Neuberts und Hackels schloss sich auch ein Teil der Enquete-Kommission an. Die entsprechenden Mitglieder erklärten, dass der Brandenburger Weg ursächlich für das jahrelange Beschweigen der DDR-Vergangenheit gewesen sei. Zudem habe er dazu geführt, dass Meinungsstreit in Brandenburg negativ belegt sei, was – so die Vermutung – negative Auswirkungen auf die politische Bildung habe.30 Die Konsensorientierung des Brandenburger Weges erhielt also durchaus auch eine negative Deutung.31

Einig waren sich die Mitglieder der Enquete-Kommission sowie der Regierung und der Opposition über die zeitliche Befristung der konsensdemokratischen Prägung des Brandenburger Weges. Aus der Landtagswahl am 11. September 1994 ging die SPD erneut als stärkste Kraft hervor. Sie erreichte eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Der SPD-Landesvorsitzende Steffen Reiche erklärte im Rückblick, dass der Brandenburger Weg bis dahin aus pragmatischen Gründen eingeschlagen worden sei, da insbesondere die Landesverfassung mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedet werden musste. Nachdem die SPD ab Oktober 1994 eine Alleinregierung stellen konnte, sei der Brandenburger Weg »nicht mehr notwendig und sinnvoll« gewesen.32 In den darauffolgenden Jahren nahm die SPD immer weniger Rücksicht auf die Einbindung des politischen Gegners in die Gesetzgebung. Spätestens 1998 kam es zum offiziellen Bruch, als der Streit um die Berufung der Schriftstellerin und PDS-Kandidatin Daniela Dahn als Verfassungsrichterin eskalierte und Lothar Bisky den Brandenburger Weg offiziell für gescheitert und beendet erklärte.33 Wie kam es dennoch dazu, dass der Begriff die Jahrtausendwende überdauerte und bis in die Gegenwart symbolisch aufgeladen wird?

Der Brandenburger Weg als Mythos und seine Wirkmächtigkeit als Erinnerungsort

Im Mai 1994 führte das Meinungsforschungsinstitut Infratest Befragungen mit Bürgern in Wriezen, Frankfurt/Oder, Potsdam und Guben durch. Obwohl die wirtschaftliche Entwicklung Brandenburgs dabei schlechter eingeschätzt wurde als in Sachsen oder Thüringen, bescheinigten die Befragten der eigenen Landesregierung eine bessere Arbeit als den anderen ostdeutschen Landesregierungen.34 Die höhere Identifikation mit der Landespolitik erklärten die meisten Befragten mit der Erwartung, dass Brandenburg ein Gegengewicht zur Bundesregierung mit ihrer CDU-FDP-Koalition bilden würde. Vor allem dem Ministerpräsidenten Manfred Stolpe wurde zudem bescheinigt, »einer von uns« zu sein.35

Zwanzig Jahre später ergab eine Umfrage des Rundfunks Berlin-Brandenburg, dass sich immerhin 60 Prozent der Brandenburger als Gewinner der deutschen Vereinigung sahen, während im ostdeutschlandweiten Schnitt nur 50 Prozent dieser Meinung waren. Mit 18 Prozent bezeichneten sich auch immerhin weniger Brandenburger als Verlierer der Einheit als im ostdeutschen Durchschnitt (23 Prozent).36

Offensichtlich gab und gibt es in Brandenburg im Vergleich zu den ostdeutschen Nachbarländern eine messbare Diskrepanz zwischen statistischen Entwicklungen und individuellen Wahrnehmungen. Der Metapher des Brandenburger Weges kam im Rahmen dieser Feststellung eine bedeutende Funktion zu. Diese bestand allerdings nicht – wie die Enquete-Kommission herausfand – in der Art und Weise der Gesetzgebung des Landtages, die durch die üblichen ‚Spielregeln‘ eines parlamentarischen Regierungssystems gekennzeichnet war und somit keine besondere Rolle im Vergleich zu den anderen Landesparlamenten eingenommen hat.37 So wurde für die erste Legislaturperiode zwar ein auf Konsens beruhender Brandenburger Weg für die Verabschiedung wesentlicher Gesetze festgestellt (ohne dass dieser jemals strategisch verabschiedet worden wäre), allerdings kam diese Phase mit Beginn der zweiten Legislaturperiode zu ihrem Ende und der Dualismus von Regierungsmehrheit und Opposition setzte sich auch im Landtag Brandenburg durch.38 Insofern wichtig war daher vielmehr die Feststellung der Gutachter und der anschließenden Diskussionen, dass es den Brandenburger Weg nicht gab – »zumindest nicht mit einem eindeutigen Profil«.39 Die Enquete-Kommission kam stattdessen zu dem Schluss, dass eine wissenschaftliche und empirisch belegbare Definition des Begriffes Brandenburger Weg nicht herausgearbeitet werden konnte und eine Verwendung daher sehr von der jeweiligen Perspektive abhänge.40

Genau in dieser Feststellung lag und liegt aber zugleich die Stärke des Brandenburger Weges: Die Vielzahl der Interpretationsansätze, deren einzige Gemeinsamkeit in einer territorialen Zuordnung zum Bundesland Brandenburg besteht, entfaltete nicht nur eine identitätsstiftende, sozialintegrative und stabilisierende Wirkung, indem sie die »konstruktive Abgrenzung« gegenüber den anderen ostdeutschen und den westdeutschen Ländern förderte und Entscheidungen legitimierte.41 Zugleich führte die positive Konnotation des Brandenburger Weges auch zu einer Stärkung der Emanzipationsprozesse einer eigenständigen Landespolitik vor dem Hintergrund der sozioökonomischen Transformation Ostdeutschlands nach 1990.

Dabei half er auf der Suche nach einem identitätsstiftenden Narrativ: Ab 1990 diente er zunächst als ›Black Box‹ verschiedener Politikinhalte, später dann als Idealvorstellung partizipativer Demokratievorstellung neuen Musters, basierend auf vorvergangenen Diktaturerfahrungen. Dazu zählten auch mythisierte Vorstellungen als Chiffre preußischer Toleranz. Vor allem aber handelte es sich beim Brandenburger Weg um einen unscharfen Begriff, der entweder politisch, mental oder geografisch aufgeladen wurde und wird.

Die Tatsache, dass Verbände und Politiker noch immer auf das Konstrukt zurückgreifen, zeigt den nachhaltigen Erfolg, der genuin mit der Konsolidierungsphase des Landes nach 1990 zusammenhing und in den politischen Debatten hauptsächlich bis 1994, aber auch darüber hinaus eine Rolle spielte.42 Als politischer Erinnerungsort diente der Brandenburger Weg aber nicht nur für die frühe Phase der parlamentarischen Demokratiegestaltung nach der Wiedervereinigung. Er konnte durchaus auch ab Mitte der 1990er Jahre für eine stark von der SPD-Regierung initiierte Landespolitik stehen, die mitunter Misserfolge insbesondere in der Wirtschafts- und Ansiedlungspolitik (Cargolifter, Lausitz-Ring, Chipfabrik, Transrapid) umfasste – eine Phase, in der Brandenburg nicht selten als ›kleine DDR‹ bezeichnet wurde.43 Abgesehen davon, ließe sich argumentieren, dass sich unter dem Brandenburger Weg nach dreißig Jahren Wiedervereinigung vor allem die starke Stellung der SPD und ihre Bereitschaft, mit fast allen politischen Kräften koalieren zu können (seit 1990 FDP, Bündnis 90, PDS/Linke, CDU), verstehen ließe.44

Möglicherweise liegt in seiner definitorischen Unschärfe gerade die Stärke des Brandenburger Weges: Dadurch ermöglichte der Terminus ein integratives Angebot, das individuell besetzt und gefüllt werden konnte. Aus einer kleinen Metapher wurde so eine durchaus wirkmächtige Konstruktion, die die Entwicklung Brandenburgs in den ersten dreißig Jahren des Landes im wiedervereinigten Deutschland und insbesondere die Erinnerung an diese Zeit nachhaltig prägte. Dabei entstand nicht nur ein Erinnerungsort für die gesellschaftlichen Umbruchsprozesse nach 1990. Zugleich schufen sich die Politiker und Bürger des Landes Brandenburg unbewusst einen Mythos, der von den Landeskindern individuell oder kollektiv, in der übergroßen Mehrzahl jedenfalls positiv, interpretiert wurde und bis heute einen identitätsstiftenden Charakter für das noch junge ostdeutsche Bundesland aufweist.45

Anmerkungen

1 Vgl. Pressemitteilung des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg vom 20.01.2021: »Kultur und Corona – Der Brandenburger Weg«, in: https://mwfk.brandenburg.de/mwfk/de/service/pressemitteilungen/ansicht/~20-01-2021-kultur-und-corona-der-brandenburger-wegburg.de [zuletzt: 31.03.2021].

2 Landesbauernverband Brandenburg e.V. (Hg.), Der neue Brandenburger Weg – Zukunftsperspektiven für die Landwirtschaft 2030. Schritte zu einem Zukunftsvertrag für die Land- und Ernährungswirtschaft in Berlin und Brandenburg, in: https://www.bauernzeitung.de/wp-content/uploads/2020/12/13_03_2020_Der-neue-Brandenburger-Weg-Fassung-fuer-den-Bauerntag-am-25.3.2020_komplett.pdf [zuletzt: 31.03.2021].

3 Ebd. Bauernzeitung vom 17.12.2020: »Der neue Brandenburger Weg«, in: https://www.bauernzeitung.de/news/brandenburg/der-neue-brandenburger-weg/ [zuletzt: 31.03.2021].

4 Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung: Brandenburger Weg, in: https://www.politische-bildung-brandenburg.de/lexikon/brandenburger-weg [zuletzt: 31.03.2021].

5 Landtag Brandenburg, Plenarprotokoll 1. Wahlperiode, 5. Sitzung, 6.12.1990, S. 99.

6 Vgl. Hans J. Misselwitz, Regionale Aspekte politischer Kultur. Was bleibt vom »Brandenburger Weg«?, in: Biss public. Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Diskussion 18 (1996), S.  65 –70, hier S. 65.

7 Vgl. ebd.

8 Vgl. Landtag Brandenburg, 1. Wahlperiode Plenarprotokoll 1/14, 24.4.1991, S. 1092 f.

9 Vgl. Andreas Anter/Astrid Lorenz/Werner Reutter, Politik und Regieren in Brandenburg, Wiesbaden 2016, S. 248.

10 Vgl. ebd.

11 Vgl. Landtag Brandenburg, 1. Wahlperiode, Plenarprotokoll 1/48, 3.6.1992, S. 3472.

12 Vgl. Landtag Brandenburg, 1. Wahlperiode, Plenarprotokoll 1/95, 19.5.1994, S. 7772.

13 Vgl. Anter/Lorenz/Reutter, Politik und Regieren (wie Anm. 9), S. 248.

14 Vgl. Detlef Kotsch, Das Land Brandenburg zwischen Auflösung und Wiederbegründung. Politik, Wirtschaft und soziale Verhältnisse in den Bezirken Potsdam, Frankfurt (Oder) und Cottbus in der DDR (1952–1990), Berlin 2001, S. 623.

15 Vgl. Ursula Feist/Hans-Jürgen Hoffmann, Landtagswahlen in der ehemaligen DDR am 14. Oktober 1990. Föderalismus im wiedervereinten Deutschland. Tradition und neue Konturen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1 (1991), S. 5 –34, hier S. 31.

16 Vor allem aufgrund der Initiative des mit Stolpe befreundeten Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau (SPD), gelang es, Stolpe von einem Eintritt in die SPD zu überzeugen und ihn als Spitzenkandidaten für die Landtagswahl zu gewinnen. Vgl. Steffen Reiche, Tief träumen und hellwach sein. Politiker und Pfarrer mit Leidenschaft. Ein autobiographischer Essay, Bonn 2020, S. 134.

17 Vgl. Lothar Bisky, Der »Brandenburger Weg«. Ansprüche, Realitäten, Sackgassen und Einbahnstraßen, Potsdam 1999, S. 28.

18 Vgl. ebd., S. 19 f.

19 Ebd.

20 Vgl. ebd., S. 26.

21 Jürgen Dittberner, Berlin, Brandenburg und die Vereinigung. Und drinnen tobt das pralle Leben! Eine Innenansicht, Berlin 1994, S. 271.

22 Vgl. Abschlussbericht der Enquete-Kommission 5/1: »Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg«, hg. v. Landtag Brandenburg, Potsdam 2014, S. 138.

23 Vgl. ebd.

24 Ebd.

25 Vgl. ebd., S. 133.

26 Vgl. ebd.

27 Zit. nach ebd.

28 Zit. nach ebd., S. 138.

29 Vgl. ebd.

30 Vgl. ebd., S. 200.

31 Vgl. Astrid Lorenz, Aufstieg, Ausstieg, Umstieg. Elitenwechsel in Brandenburg, in: Andrea von Gersdorff/Astrid Lorenz, Neuanfang in Brandenburg, Großbeeren 2010, S. 173–198, hier S. 190.

32 Zit. nach Abschlussbericht der Enquete-Kommission (wie Anm. 22), S. 138.

33 Vgl. Anter/Lorenz/Reutter, Politik und Regieren (wie Anm. 9), S. 251.

34 Vgl. Misselwitz, Regionale Aspekte (wie Anm. 6), S. 66.

35 Ebd.

36 Vgl. rbb vom 29.08.2014: »BrandenburgTREND – Umfrage zu Gewinnern und Verlierern. Brandenburger blicken positiver auf die deutsche Einheit«, in: https://www.rbb24.de/extra/landtagswahl-brandenburg-2014/beitraege/BrandenburgTrend-Gewinner-der-Einheit.html [zuletzt: 31.03.2021]; Anter/ Lorenz/Reutter, Politik und Regieren (wie Anm. 9), S. 262.

37 Abschlussbericht der Enquete-Kommission (wie Anm. 22), S. 275.

38 Vgl. ebd.

39 Ebd., S. 366.

40 Vgl. ebd., S. 315.

41 Vgl. ebd., S. 297.

42 Vgl. Anter/Lorenz/Reutter, Politik und Regieren (wie Anm. 9), S. 251.

43 Vgl. Der Spiegel vom 08.10.1995 »Schwarze Pumpe, rotes Meer«; Potsdamer Neueste Nachrichten vom 22.07.2015: »Der eigene Weg der kleinen DDR«.

44 Vgl. ebd., S. 262.

45 Zum Brandenburger Weg als Mythos vgl. Anter/ Lorenz/Reutter, Politik und Regieren (wie Anm. 9), S. 259–262.

Abbildungsnachweis

Abb. 1 Bundesarchiv: Bild 183-1990-1206-004 (Foto: Karl-Heinz Schindler).

Abb. 2 https://www.politische-bildung-brandenburg.de/themen/verfassung-ja-bitte (Foto: Dietmar Horn).

Abb. 3 Bundesarchiv: Bild 183-1990-1113-026 (Foto: Karl-Heinz Schindler).

Abb. 4 Landtag Brandenburg (Foto: unbekannt).

 

 

 

Der Beitrag erschien in:

Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 329-339.


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