Brankohlebergbau

Robert Büschel & Martina Kuhlmann

Erinnerungsorte sind Orte des kollektiven Gedächtnisses und unterliegen doch der Subjektivität der sie betrachtenden Menschen. In Abhängigkeit von der eigenen Position werden ihnen vielfältige Deutungen zugeschrieben. Sie sind geografische Orte, können sich aber auch in Ereignissen, Dingen und vielem mehr niederschlagen. Der Niederlausitzer Braunkohlebergbau ist ein Erinnerungsort, der sich vielmehr aus einem Netzwerk zahlreicher Orte zusammensetzt. Sie stehen allesamt im Verhältnis zueinander, agieren einmal mehr und einmal weniger miteinander. Der Braunkohlebergbau ist aber auch ein Erinnerungsort, an dem sich gegenwärtig die verschiedenen Haltungen und Positionen abarbeiten. Sie konstruieren zumeist unterschiedliche in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gerichtete Bilder. Der Braunkohlebergbau entwickelt sich zum bundespolitischen Spielball zwischen den Fragen des Umweltschutzes, der Energieversorgung bis hin zur zukunftsfähigen Entwicklung ganzer Landstriche. Und doch ist der Braunkohlebergbau vor allen Dingen eins: einer der wichtigsten Gründe für die heutige Gestalt der Niederlausitzer Landschaft. Er manifestiert sich an bewusst aufrecht erhaltenen Erinnerungsorten, aber auch an sehr vielen unbewussten. Er ist in unterschiedlicher Stärke Bestandteil der Niederlausitz und schlussendlich auch des Landes Brandenburg.

Mit dem eher naturkundlichen Blick auf die Braunkohle stellt sich diese erst einmal als vor Jahrmillionen abgestorbenes Pflanzenmaterial dar. Verschiedene biochemische Prozesse sorgten für eine Umwandlung in Braunkohle. In den großen moorigen Gebieten wuchsen Wasserfichten, Magnolien, Eichen und viele weitere Pflanzenarten. Diese einstige Landschaft lässt sich heute im Land Brandenburg kaum mehr wahrnehmen. Das nahmen die beiden Cottbuser Geologen Ursula und Rolf Striegler im Jahr 1987 zum Anlass für den Aufbau eines Tertiärwaldes in der Stadt Cottbus.1 Der Naturkundliche Verein der Niederlausitz ergänzte den Tertiärwald, der sich im heutigen Spreeauenpark in Cottbus befindet, mit einem rekonstruierten Kohlemoor. Ein Stubben eines fossilen Mammutbaumes aus dem Tagebau Klettwitz erweiterte das Ensemble.2 Mehrere Tage benötigten die Tagebaukumpel zur Bergung des über zwanzig Tonnen schweren Stubbens. Heute ist der Niederlausitzer Tertiärwald ein Ort, an dem das Erleben einer Landschaft möglich ist, welche die Grundlage für die Entstehung des Rohstoffs und Energieträgers Braunkohle war. Zwischen Wasserfichten und Sumpfzypressen können Interessierte sich einerseits mit der naturwissenschaftlichen Dimension der Braunkohle auseinandersetzen. Andererseits ist er mit seiner Lage im Cottbuser Spreeauenpark jedoch auch ein Ort zum Verweilen und Erholen.

Im Gegensatz zum Niederlausitzer Tertiärwald dienen die Tagebaue, Kraftwerke und die zugehörige Infrastruktur keineswegs der Erholung und der Auseinandersetzung mit einem längst vergessenen Naturraum. Sie stellen den Grundstein unserer gegenwärtigen Energieversorgung dar, sind Arbeitsplatz tausender Menschen und ermöglichen vielen weiteren ein Auskommen. Doch auch sie sind ein Teil der Erinnerungskultur der Niederlausitz, verweisen sie doch auch ein Stück weit auf die historischen und gegenwärtigen Dimensionen der Braunkohlegewinnung und -verstromung. Dabei war die erste verbriefte Entdeckung der Braunkohle in der Niederlausitz wohl eher ein Zufallsfund.

Auf der Suche nach Alaun stießen die Arbeiter 1789 in Bockwitz, heute Lauchhammer-Mitte, auf einen Braunkohleflöz. Wenige Jahre später wurde mit der Braunkohle aus Wischgrund nordöstlich von Lauchhammer eine der ersten Dampfmaschinen auf dem Gebiet des späteren Deutschlands betrieben. Bei Guben trat die Braunkohle sogar von ganz allein zu Tage. Dort konnte sie mit Spaten und Schaufel abgebaut werden. 1815 kam es gar zu einem Erdbrand, der sich auf dem dortigen Braunkohleflöz entzündete.3 Doch die Förderung der Kohle konzentrierte sich vorerst weiter auf die Region rund um Kostebrau, wo die Bergleute die Braunkohle teilweise unter Tage förderten. In den kommenden Jahrzehnten kam es verstärkt zur Gründung kleinerer Braunkohlegruben und einem immer häufigeren Auftreten von Tagebauen. Die Suche und der Abbau von Braunkohle weiteten sich jedoch immer mehr über die gesamte Niederlausitz aus. Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden beispielsweise die Gruben »Auguste« bei Lichterfeld, »Louisenglück« bei Kostebrau oder »Seiferts Glück« bei Pulsberg. Der Betreiber der letztgenannten Grube war der Besitzer der Krugnahrung Pulsbergs, ein gewisser Seifert.4 Teilweise wurde die Braunkohle als Handelsware unter anderem an das Eisenwerk in Lauchhammer verkauft. Von einem eigenständigen Industriezweig kann zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht die Rede sein. Die Gruben dienten in den meisten Fällen der Eigenversorgung einzelner Betriebe, zum Beispiel der zahlreichen Glashütten, und waren oft an diese gekoppelt. Doch der zunehmende Einsatz von Dampfmaschinen in den Niederlausitzer Industriebetrieben, die Weiterverarbeitung in Brikettfabriken und schlussendlich eine voranschreitende Elektrifizierung sorgten für einen immer stärker werdenden Bedarf am Brennstoff Braunkohle.

Das 20. Jahrhundert stand im Zeichen immer größer werdender Tagebaue und einer zunehmenden Technisierung (Abb. 1). Vielerorts wich die Handförderung der maschinellen Förderung. Eine erste Abraumförderbrücke wurde 1924 bei Plessa eingesetzt, im Lauchhammerwerk entstanden im selben Jahr die weltweit ersten Schaufelradbagger.5 Damit einher ging auch die immer umfassendere Elektrifizierung der Region. Neben dem Wasser wurde die Braunkohle verstärkt zur Stromgewinnung verwendet. Kraftwerke, unter anderem in Trattendorf oder Lauchhammer-Ost, versorgten fortan umliegende Städte über Hochspannungsfernleitungen mit elektrischem Strom.6

Eine besondere Bedeutung wurde der Braunkohle-Förderung in der DDR zuteil. Aufgrund mangelnder Steinkohlevorräte erfolgte die Konzentration auf die Braunkohle. Großtagebaue, neue Kraftwerke und weitere Großprojekte, wie zum Beispiel der Aufbau des Gaskombinats Schwarze Pumpe, wurden beschlossen. Der massive Anstieg der in der Braunkohle tätigen Personen führte zu einem erheblichen Bedarf an Wohnraum. Diesem wurde durch den Aufbau neuer Wohnkomplexe, beispielsweise in Cottbus oder Hoyerswerda, Rechnung getragen.7

Seit Jahrhunderten ist die Braunkohle nicht nur Energieträger, sondern ein zentraler Motor der Wirtschaftsregion. Der immer stärker werdende Ruf zum Schutz der Umwelt und zur Veränderung der energetischen Grundlagen des Landes sorgen auch für einen Wandel in der »Braunkohle«. Einige Erinnerungsorte sind nicht nur Zeugen dieser historischen Entwicklungen, sie sind Anlassgeber für Diskussionen und die Auseinandersetzung mit der Braunkohle und ihrer Förderung.

Einer dieser Erinnerungsorte ist das Erlebnis-Kraftwerk Plessa – ein Industriedenkmal, dessen Ursprung in den 1920er Jahren liegt.8 Wenn es auch in einzelnen Etappen modernisiert und ausgebaut wurde, so blieben im denkmalgeschützten Kraftwerk doch zahlreiche Bestandteile aus der Aufbauzeit erhalten. Als heutiges Erlebnis-Kraftwerk ermöglicht der Standort einerseits historische Perspektiven, aber er bietet auch die Gelegenheit zu Fragen nach dem gegenwärtigen und zukünftigen Umgang mit den umgenutzten Flächen der Braunkohleindustrie. Ähnlich verhält es sich mit dem Besucherbergwerk F60, welches sich als Event- und Festivalgelände am Bergheider See befindet.9 Teilweise bis zu 20.000 Menschen10 treffen sich hier zu sommerlichen Festivals und erleben einen Ort, der vom Abbau der Kohle gezeichnet und erst durch diesen entstanden ist. Der Blick richtet sich dabei zumeist auf den ›liegenden Eiffelturm‹, wie die in der Niederlausitz eingesetzten Förderbrücken zum Teil genannt werden. Der ganz offensichtliche Erinnerungsort lenkt die Blicke auf das imposante Relikt des nicht mehr aktiven Tagebaus Klettwitz-Nord. Und dabei nehmen auch dieser Tagebau selbst und viele weitere stillgelegte Tagebaue eine besondere Funktion in der Erinnerung an die Gewinnung der Braunkohle ein. Sie sind verschwundene und zeitgleich neu entwickelte oder gar visionäre Landschaften (Abb. 2).

Inmitten des früheren ›Kohle- und Energiebezirkes‹ Cottbus liegt der ehemalige Tagebau Cottbus-Nord, nur wenige Kilometer vom Zentrum der Stadt Cottbus entfernt. Interessierte können sich an einer Vielzahl von Tafeln und Aussichtspunkten mit der Braunkohleförderung und der aktuell angestrebten Flutung auseinandersetzen. Vom Aussichtsturm in Merzdorf aus entdecken sie sowohl zahlreiche Windräder, als auch das Kraftwerk Jänschwalde. Vergangenheit und Gegenwart treffen hier ganz offensichtlich auf eine zukünftige Landschaft und möglicherweise künftige Energieversorgung. Zwischen diesen beiden scheint der einstige Tagebau als verbindendes Element zu liegen. Insgesamt vier Ortschaften mussten ihm weichen: Tranitz, Groß Lieskow, Klein Lieskow und Lakoma. Deren Einwohner mussten ihre Dörfer für immer verlassen. Einige zog es in die Stadt Cottbus, andere in das Umland.11 Das Zusammenleben ging vielerorts verloren, genauso wie viele Häuser, Straßen und Erinnerungen. Heute sind es noch Fotografien und Erzählungen der ›Umgesiedelten‹, die die Erinnerungen an die zerstörten Gemeinden aufrechterhalten. Das dörfliche Leben und das von Generation zu Generation getragene Brauchtum verloren sich ebenfalls oder mussten andernorts wiederbelebt werden. Mit dem Abriss der Orte geht für viele ein Stück der eigenen Identität für immer verloren (Abb. 3).12

Insbesondere die sorbisch-wendische Kultur stellt dies bis heute vor immense Herausforderungen. Gerade in den dörflichen Gemeinschaften fanden sich oftmals sorbisch-wendische Sprachenträgerinnen und -träger, die im Zuge der Abbaggerung auseinandergerissen wurden. Für die sorbisch-wendische Kultur und Sprache bedeutete dies erhebliche Einschnitte. Doch seit vielen Jahren engagieren sich zahlreiche Menschen für ihren Erhalt und die Aufrechterhaltung ihrer Bedeutung für das gesamte Land. Und so sind auch die aktiven und geschlossenen Tagebaue Sinnbild verlorengegangener und teilweise in Vergessenheit geratener Gemeinden. Auch wenn einige von ihnen an andere Orte ›umgesiedelt‹ wurden, so vollzog sich dennoch stets ein struktureller Wandel der Gemeinden und des Gemeindelebens.

Im Zuge der Braunkohleförderung erfolgte nicht nur der Abriss von Gemeinden und Ortschaften. Vielmehr findet eine komplette Umgestaltung der Landschaft in all ihren Ebenen statt. Wälder werden gerodet, Flüsse und Bäche umgeleitet, Felder und Wiesen weggebaggert. Flora und Fauna müssen weichen. Der Abbau ist einer der ersten deutlich sichtbaren Schritte in der Umgestaltung des Geländes. Neben der Zerstörung bietet dies jedoch auch eine fast bundesweit einmalige Gelegenheit zur Erforschung der Geschichte der Landschaft. Die Bestände des früheren Bezirksmuseums Cottbus, des heutigen Stadtmuseums, beinhalten circa eine Million geologische und archäologische Objekte. Diese stammen zu einem Großteil aus Grabungen in den Tagebauvorfeldern. Einige der Funde, wie beispielsweise ein Oberschenkelknochen eines Wollhaar-Mammuts aus Klinge, können in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Cottbus in Augenschein genommen werden.

Die abgetragenen Landschaften müssen schlussendlich auch wieder gestaltet werden. Bereits während der Braunkohleförderung beginnen unterschiedliche Maßnahmen zur Rekultivierung und Renaturierung der Landschaft.13 Mit der Stilllegung des Tagebaus werden diese intensiviert. Die Landschaft kann selbstredend nicht wiederhergestellt werden, sie wird neugestaltet und mitunter den Bedürfnissen nachkonstruiert. Aus den Mondlandschaften, welche die zahllosen Bagger hinterlassen, entstehen neue Naturräume und Landschaften. Doch dafür braucht es Jahrzehnte, was den Betroffenen viel Geduld abfordert. Die Nutzbarmachung dieser Gebiete stellt erhebliche Ansprüche an Forschung und Wissenschaft. Gemeinsam mit zahlreichen Einrichtungen entstehen Erprobungsflächen, zuletzt wurden so unter anderem Lavendel, Hanf und Szechuan-Pfeffer auf mehreren Hektar zu rekultivierender Fläche ausgebracht.14 Diese und viele weitere Maßnahmen erscheinen als großflächig angelegte Experimente. Dabei sind sie doch zumeist in die Zukunft gewandt und können vermutlich erst im Rückblick bewertet werden. Aus dem einstigen Versuch der Ansiedlung von Robinien auf den ehemaligen Tagebauflächen ist beispielsweise ein Begleiter der Rekultivierung geworden. Als invasive Art durchaus umstritten, dient sie heute auf vielen Flächen als reine Biomasse. Die Robinie ist ein nachwachsender Energieträger, der dem klimatischen Wandel und den Schwierigkeiten der kargen Flächen zu trotzen scheint.15 Sie könnte auch ein Teil der Antwort auf Problemstellungen im Bereich der Energieversorgung sein. Aus den einst über Jahrhunderte oder Jahrtausende gewachsenen Landschaften entstehen nun künstlich geschaffene Räume. Möglicherweise haben sie erst in Jahrzehnten oder Jahrhunderten den Anspruch einer neuen Natürlichkeit inne. Sie können heute als Erinnerungsorte betrachtet werden, die gegebenenfalls in einigen Generationen im Landschaftsbild der Niederlausitz nicht mehr wahrnehmbar oder nur schwer sichtbar sind.

Eine eigene Rolle im Rahmen rekultivierter oder zu rekultivierenden Maßnahmen nehmen einige besondere Orte ein. So entstand zum Beispiel im Tagebau Welzow-Süd im Bereich des einstigen Ortes Wolkenberg ein Weinberg. Bedingt durch die tagebauliche Veränderung wurde eine für diesen Weinberg sehr günstige Ausrichtung und Situation geschaffen. Während nur wenige hundert Meter weiter noch immer die Bagger die Braunkohle aus der Erde befördern, wachsen hier Grauburgunder, Roter Riesling und andere Rebsorten. Dieser auf einen recht kleinen Raum begrenzte Ort steht stellvertretend für zahlreiche kleinere auf sich bezogene Rekultivierungsvorhaben.

Einen weitaus größeren Bereich umfasst das Lausitzer Seenland. Der größte Teil der entstandenen Seen und des Seenlandes selbst hat seinen Ursprung in der Gewinnung der Braunkohle, denn es handelt sich hierbei oft um geflutete Tagebaurestlöcher. Diese sind einer touristischen Nutzung gewidmet, dienen der Naherholung und für umfangreiche Sport- und Freizeitangebote. Durch die schiffbare Verbindung einer Vielzahl dieser Seen soll das Gebiet für überregionales Interesse sorgen. Dabei ist auch die Vielzahl dieser Orte nicht nur als reiner Erinnerungsort zu verstehen, vielmehr befinden sie sich in der steten Entwicklung und auf der Suche nach ihrer ganz eigenen Relevanz. So entstand mit der Landmarke Lausitzer Seenland im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land16 ein Aussichtsturm und ein Zentrum des Seenlandes. Die Landmarke verbindet einerseits die alte natürlich gewachsene mit der vom Menschen geschaffenen Landschaft. Diese Bruchstellen werden durch die Landmarke, welche auch den Spitznamen »Rostiger Nagel« trägt, sehr eindrucksvoll aufgezeigt (Abb. 4). Hier treffen aber nicht nur unterschiedliche Landschaften aufeinander, er ist auch Treffpunkt der Menschen, deren Interesse ganz vielfältig ist: Erholung, Sport, Auseinandersetzung mit vergangener und gegenwärtiger Industrie und vieles mehr.

Als letzter beispielhafter Ort seien die IBA-Terrassen in Großräschen genannt. Sie sind längst nicht mehr nur Idee und Vision, sie befinden sich seit vielen Jahren in der Umsetzung und steten Weiterentwicklung. Wo einst Ortsteile durch den Tagebau Meuro verschwanden, kreuzen bald Segelboote im Wind. Die »SeeStadt« Großräschen veränderte ihr Gesicht durch den Tagebau, nun sind See, Hafen und viele weitere Faktoren die Katalysatoren der Stadtentwicklung.17

Während sich ein Teil der Erinnerungsorte dem industriekulturellen Erbe widmet, wenden sich andere Orte ganz bewusst den Folgen des Braunkohlebergbaus und dem damit verbundenen Verschwinden von Gemeinden und Ortschaften zu. Zahlreiche dezentrale Gedenkstätten stehen mit zentralen Orten der Erinnerungskultur in Verbindung. Eine Schlüsselrolle nimmt – neben den zumeist Betroffenen selbst – die Domowina ein.18 Der Bund der Lausitzer Sorben e.V. rief unter anderem im Jahr 1997 erstmalig den Gedenktag für abgebaggerte sorbische Dörfer aus. Anlassgeber waren die vom Landtag beschlossenen rechtlichen Voraussetzungen für die Auflösung des Dorfes Horno. Der ›Kampf um Horno‹ hatte schon viele Jahre zuvor eingesetzt, konnte aber schlussendlich nicht gewonnen werden. Die Debatte um den geplanten Abriss machte auch nicht an der Gemeindegrenze Halt, sie wurde in der gesamten Region und weit darüber hinaus geführt. Das »Archiv Verschwundener Orte«19 macht auf diese Entwicklung aufmerksam und gibt als zentraler Erinnerungsort vor allen Dingen dem immateriellen Erbe einen Raum. Im Zentrum stehen nicht nur die Orte an sich, sondern die subjektiven Erfahrungen einzelner Betroffener. Darüber hinaus ist die Lage des Archives von besonderer Bedeutung für seine Thematik, denn es liegt im neu aufgebauten Ortsteil Horno der Stadt Forst. Ein Ortsteil, entstanden in den 2000er Jahren durch den geplanten Abriss des Dorfes Horno. In der direkten Nachbarschaft befindet sich das Kirchliche Informations- und Begegnungszentrum der Neuen Kirche Horno. Dort wird unter anderem eine dauerhafte Ausstellung gezeigt, welche die Blicke auf die durch den Braunkohlebergbau verschwundenen Kirchen richtet.

Während diese beiden Orte einen Gesamtblick auf die über 130 in der gesamten Lausitz verschwundenen oder teilweise abgerissenen Dörfer ermöglichen, widmen sich zahlreiche Erinnerungsorte dem Schicksal einzelner Gemeinden und Dörfer. Drei dieser Erinnerungsorte befinden sich am Ufer des entstehenden Cottbuser Ostsees. Sie machen auf die verschwundenen Dörfer Groß Lieskow, Klein Lieskow und Tranitz aufmerksam. Auch hier fungierte neben der einstigen Dorfgemeinschaft die Domowina als Initiatorin für die Aufrechterhaltung und direkte Verortung des Erinnerns. Nur wenige Meter von den früheren Dorfkernen entfernt befinden sich die Gedenkstätten, die nicht nur auf das Schicksal des verschwundenen Ortes aufmerksam machen. Sie regen zum Nachdenken an. Eine Vielzahl weiterer solcher Orte kennzeichnet die Niederlausitz. Oft verteufeln sie nicht den Braunkohleabbau und den Verlust der eigenen Ortschaft durch den Braunkohlebergbau an sich. Vielmehr möchten sie rückblickend auf das Schicksal und gegen das Vergessen des eigenen Dorfes aufmerksam machen. Sie sind aber auch Kennzeichen der zahlreichen zerrissenen Biografien ihrer einstigen Bewohnerinnen und Bewohner, bei denen es sich laut dem »Archiv Verschwundener Orte« um über 25.000 Menschen handelt.20

Wie sehr sich der Umgang mit der Niederlausitzer Braunkohle im Wandel befindet, das wird an ihren dargestellten Erinnerungsorten deutlich. Welche gesellschaftlichen Auswirkungen dies auf die Region hat, das zeigt sich insbesondere an den zahlreichen Maßnahmen, die mit dem strukturellen Wandel einhergehen. Dies sei beispielhaft an einem der umfangreichsten Projekte betrachtet, welches die Niederlausitz betrifft – die Flutung und Umgestaltung des Tagebaus Cottbus-Nord und der damit verbundene Wandel der Stadt Cottbus. In den kommenden Jahren wird aus dem Restloch der aktuell größte künstlich geschaffene See in Deutschland. Mit einer Gesamtfläche von über neunzehn Quadratkilometern und einem Rundweg von mehr als zwanzig Kilometern soll der Cottbuser Ostsee sowohl regionales, als auch überregionales Interesse wecken. Dabei erzeugt der Mensch hier nicht nur Räume für sich selbst, sondern auch für die heimische Vegetation und Tierwelt. Und so sind nicht nur die Verstromung und die Gewinnung der Braunkohle Thema von auf den Umweltschutz bezogenen Debatten. Vielmehr ist auch die Rekultivierung und Renaturierung Gegenstand der Debatte. Denn diese bietet neue Perspektiven und Möglichkeiten, wenngleich sie die einstige gewachsene Landschaft mitnichten ersetzen kann.

Doch die Flutung des Tagebaus ist auch Anlassgeber für ein außerordentliches Vorhaben der Stadt Cottbus – die Entwicklung eines neuen Ortsteiles und das Zusammenwachsen von Stadt und künftigem See (Abb. 5). Mit dem Aussichtsturm direkt am Randschlauch und dem Einlaufbauwerk zur Flutung des künftigen Gewässers bestehen schon heute zentrale Punkte, die sich der Entwicklung der Landschaft widmen. Sie erinnern schon heute an einen nicht mehr aktiven Tagebau, an eine im Wandel befindliche Landschaft. Und vermutlich entstehen in der neuen Seevorstadt zahlreiche weitere Erinnerungsorte, wenn sich ein Industriegebiet zu einem Stadtquartier als Zukunftsort entwickelt.21

Die Braunkohle als Erinnerungsort lässt sich weder thematisch noch geografisch auf einen Ort oder eine Perspektive beschränken. Vielmehr ist sie ein Geflecht aus Erinnerungsorten, die oftmals eine oder mehrere Perspektiven in den Blick nehmen. Sie konzentrieren sich nicht auf einen Punkt, sondern lassen sich in der gesamten Niederlausitz verorten. Ein Streifzug durch die Region führt unweigerlich an auf die Braunkohle bezogenen Erinnerungsorten vorbei. Dabei ist es unerheblich, ob diese als bewusst oder unbewusst geschaffene Erinnerungsorte fungieren. Ihnen allen bleibt gleich, dass sie auf eine fast gänzlich umgestaltete Landschaft verweisen, die eng mit der Braunkohle verwachsen ist. Sie fokussieren eine Region, deren Einwohner seit über 200 Jahren mit dem Abbau der Braunkohle leben und für die der Anblick ›liegender Eiffeltürme‹ sehr vertraut ist.

Und sie blicken auf die hier lebenden Menschen, deren eigene Lebensgeschichte oft zumindest zu Teilen von der Braunkohle geprägt ist. Während die einen in der ›Kohle‹ arbeiten, haben andere ein Stück ihrer Heimat an den Braunkohlebergbau verloren. Die einen ringen aus Gründen des Umweltschutzes um ein schnelles Ende der Kohleförderung und Kohleverstromung, andere wollen diese als Grundlage gegenwärtiger Energieversorgung weiter fortführen. Doch den meisten geht es im Kern oft um ihre Region und die Sicherstellung einer zukunftsfähigen Lausitz. Und so könnten auch sie als ein Bestandteil im Netzwerk der Braunkohle-Erinnerungsorte betrachtet werden – ein Netzwerk, das gegenwärtig einen enormen Umbruch erfährt und deren Bestandteile sich in einem gewaltigen Wandel befinden. Und doch bleibt bei aller Kritik vielerorts eins erhalten: der Respekt vor den Leistungen der hier lebenden Menschen.

Anmerkungen

1 Vgl. Ursula Striegler, Der Tertiärwald von Cottbus. Ein nachgestalteter Urwald der Braunkohlezeit, in: Natur und Landschaft in der Niederlausitz 14 (1993), S. 89–97.

2 Ursula Striegler, Die obermiozäne Flora des Blättertons von Wischgrund und anderer gleichaltriger Fundstellen der Klettwitzer Hochfläche (Niederlausitz, Land Brandenburg, Deutschland), Görlitz 2017. S. 91 f.

3 Matthias Baxmann, Vom »Pfützenland« zum Energiebezirk. Die Geschichte der Industrialisierung der Lausitz, Dresden 2004, S. 63.

4 Friedhelm Schulz, Drei Jahrhunderte Lausitzer Braunkohlebergbau. Illustrierte Zeittafel, Bautzen 2000, S. 38.

5 Ebd. S. 101.

6 Baxmann, Vom »Pfützenland« zum Energiebezirk (wie Anm. 3), S. 74.

7 Vgl. Nikola Knoth, »Ich war Bergmann, was wird nun?« Die Niederlausitzer Braunkohlenregion aus umwelthistorischer Sicht, in: Werkstatt Geschichte 3 (1992), S. 27–32, hier S. 27 f.

8 Manuela Armenat, Von der Wasserkraft zum Wasserdampf. Energiegeschichte an einem Ort – Die Elstermühle und das Kraftwerk in Plessa, in: Bernd Herrmann/Urte Stobbe (Hgg.), Schauplätze und Themen der Umweltgeschichte. Umwelthistorische Miszellen aus dem Graduiertenkolleg. Werkstattbericht. Graduiertenkolleg 1024, Interdisziplinäre Umweltgeschichte, Göttingen 2009, S. 17–33, hier S. 27.

9 Hierzu vgl. unter anderem Baxmann, Vom »Pfützenland« zum Energiebezirk (wie Anm. 3), S. 77.

10 Robert Pötzsch, Feel Festival. Ein Dorf und sein Festival, in: Lausitzer Rundschau online vom 14. März 2018, vgl. https://www.lr-online.de/lausitz/finsterwalde/feel-festival-ein-dorf-und-sein-festival-37975750.html [Letzter Zugriff: 26.08.2021].

11 Hierzu vgl. unter anderem Jochen Fetzer, »Schönes altes Dorf – schönes neues Dorf?« Umsiedlung: Erzwungene Migration und unfreiwillige Statuspassage, in: Franziska Becker/Elka Tschernokoshewa (Hgg.), Skizzen aus der Lausitz. Region und Lebenswelt im Umbruch, Köln/Weimar/Wien 1997, S. 81–110.

12 Dazu vgl. unter anderem Klaus Muche, Entwicklungsraum Lausitz, in: Susanne Hose (Hg.), Raum-Erfahrungen – Leben in der Lausitz. Ein Lesebuch, Bautzen 2003, S. 14 –23, hier S. 16ff.

13 Einblicke in die Entwicklung und Entstehung unterschiedlicher Bergbaufolgelandschaften bietet unter anderem H[einz] Müller, Bergbaufolgelandschaften im Lausitzer Revier, Senftenberg 1993.

14 Niederlausitz aktuell: LEAG testet Lavendel-, Nutzhanf- und Pfefferanbau auf ehemaligen Tagebauflächen, in: Niederlausitz aktuell. 23. April 2020, vgl. https://www.niederlausitz-aktuell.de/niederlausitz/82094//leag-testet-lavendel-nutzhanf-und-pfefferanbau-auf-ehemaligen-tagebauflaechen.html [zuletzt: 12.07.2021].

15 Vgl. Atlant Bieri, Natur aus den Fugen? Die Verbreitung invasiver Arten. Gefahr und Chance, Zürich 2018.

16 Zur Geschichte und den ersten Projekten der Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land vgl. unter anderem Antje Boshold, Industrie-Tourismus im Lausitzer Braunkohlenrevier. Perspektiven zum Strukturwandel einer ostdeutschen Industrieregion, Berlin 1999, S. 36ff.

17 Dazu vgl. unter anderem Andrea Budich, Weiße Stadt am Großräschener Seehafen wächst weiter, in: Lausitzer Rundschau online vom 5. Juni 2020, vgl. https://www.lr-online.de/lausitz/senftenberg/tourismus-weisse-stadt-am-grossraeschener-see hafen-waechst-weiter-46798219.html [Letzter Zugriff: 26.08.2021].

18 Annelore Erler/Dörthe Stein/Christabel Heisig/Werner Sroka/Marion Quitz, Dokumentation bergbaubedingter Umsiedlung. Archiv verschwundener Orte Forst/Horno, Leipzig 2010, S. 24.

19 Weitere Informationen zur Datenbank »Archiv verschwundener Orte/Archiw zgubjonych jsow«, vgl. www.archiv-verschwundene-orte.de [zuletzt: 12.07.2021].

20 Archiv verschwundener Orte: Dokumentation (wie Anm. 15). S. 22.

21 Einblicke in abgeschlossene und zukünftige Projekte vgl. die »Cottbuser Ostsee«-Internetseite der Stadtverwaltung Cottbus: Planungsziele, vgl. cottbuser-ostsee.de/planung [zuletzt: 12.07.2021].

Abbildungsnachweis

Abb. 1 Städtische Sammlungen Cottbus (Foto: unbekannt).

Abb. 2 Sammlung Jürgen Nattke (Foto: unbekannt).

Abb. 3 Städtische Sammlungen Cottbus (Foto: unbekannt).

Abb. 4 Martin Winzer.

Abb. 5 Städtische Sammlungen Cottbus (Foto: Robert Büschel).

 

 

Der Beitrag erschien in:

Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 303-313.


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