Zur Einführung

Matthias Asche, Vinzenz Czech, Frank Göse, Klaus Neitmann

Der den Titel dieses Buches dominierende Begriff Erinnerungsort erfreut sich in der internationalen wie in der deutschen Geschichtswissenschaft seit den 1980er Jahren zunehmender Beliebtheit und ist mittlerweile in zahlreichen Veröffentlichungen aufgegriffen worden, bedarf aber zum rechten Verständnis der mit ihm verfolgten historischen Thematik einer Erläuterung. Insbesondere ist es notwendig, über den Inhalt des Wortbestandteils ›Ort‹ aufzuklären, weil damit hier nicht entsprechend gängiger Deutung eine bestimmte Lokalität gemeint ist. Das Konzept der Erinnerungsorte ist von dem französischen Historiker, Publizisten und Verleger Pierre Nora in Zusammenarbeit mit vielen Fachkollegen entwickelt und entfaltet worden in einem zwischen 1984 und 1992 erschienenen dreiteiligen, aus insgesamt sieben Bänden bestehenden Werk, in dem unter den Titeln »La République«, »La Nation« und »Les Frances« insgesamt über 130 Beiträge französische »lieux de mémoire« – was ins Deutsche mit Erinnerungsorte übertragen wurde – beschreiben.1 Nora knüpfte an Überlegungen des französischen Soziologen Maurice Halbwachs aus den 1920er Jahren an, der als erster methodisch bedacht das Phänomen der kollektiven Erinnerung oder des kollektiven Gedächtnisses erhellt hatte.2 Zwar besitzt ein jeder ein eigenes, aus seinen persönlichen Lebensumständen gespeistes Gedächtnis, aber er bleibt mit ihm nicht allein, sondern dieses verbindet sich im gegenseitigen Gedankenaustausch mit den Erinnerungen anderer in demselben Milieu, in dem er lebt. Aus dem Zusammenspiel des individuellen Gedächtnisses des Einzelnen und der gemeinsamen, kollektiven Erinnerung der Vielen erwachsen historische Wahrnehmungsmuster und Deutungen, die von dem übereinstimmenden Bedürfnis nach Sinnstiftung angetrieben sind. Es sind vorrangig Nationen, in denen kollektive Erinnerungen entstehen und gepflegt werden, wie man leicht erkennt, wenn man sich ihre Gedenkfeiern und Denkmäler, ihre Mythen und Rituale vergegenwärtigt, wenn man an ihre Berufung auf die großen Persönlichkeiten, die bedeutenden Ereignisse oder die leuchtenden Werke ihrer Vergangenheit denkt.

Nora zog aus der allgemeinen Theorie von Halbwachs die Schlussfolgerung, dass es gelte, die kollektiven Erinnerungen menschlicher Gruppen ernst zu nehmen und sie in ihren konkreten Gehalten zu ergründen. Er fragte gezielt danach, wie sich die Vergangenheitsentwürfe der Völker (und die damit verknüpften Zukunftsentwürfe) entwickelten und im Laufe der Zeit veränderten, und er suchte eine Antwort in der Weise zu finden, dass er in seinen genannten Bänden Bruchstücke des französischen nationalen Gedächtnisses zusammentrug und in Form von Essays bearbeiten ließ. Ihn leitete die Analyse derjenigen »Orte – in allen Bedeutungen des Wortes – […], in denen sich das Gedächtnis der Nation Frankreich in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat«.3 Unter diese allgemeine Begriffsbestimmung fallen sehr verschiedenartige ›Orte‹: Gedenkstätten wie die Gräber der französischen Könige in St. Denis, Symbole, Embleme und Kunstwerke wie die Trikolore oder die Marseillaise, Gebäude wie die Kathedrale Notre-Dame oder der Eiffelturm, historische Texte wie die Erklärung der Menschenrechte oder der Code Napoléon, die scharfen Trennlinien innerhalb Frankreichs, etwa zwischen Katholiken und Hugenotten, zwischen Nord und Süd, zwischen der Rechten und der Linken, ebenso wie die tiefen Gemeinsamkeiten wie etwa die Sprache, überragende Persönlichkeiten wie Charlemagne (Karl der Große), die heilige Johanna, der Sonnenkönig. Nora bewegen, wenn er die »lieux de mémoire« der bevorzugten Aufmerksamkeit der Historiker empfiehlt, nicht die historischen Ereignisse oder Aktionen an sich, nicht die Vergangenheit, wie sie (nach Überzeugung der kritischen Historiker) aus dem Studium der überlieferten Quellen und deren Interpretation möglichst ›wahrheitsgetreu‹ zu rekonstruieren ist, sondern die in den Zeitläufen wechselnden Konstruktionen vergangener Geschehnisse und die ihnen in aufeinanderfolgenden Gegenwarten zugeschriebenen, aufkommenden und wieder verschwindenden Bedeutungen. Anders ausgedrückt: Nora faszinieren die Art und Weise, wie Traditionen geschaffen, weitergegeben, gestärkt oder geschwächt werden. Die Geschichte der Erinnerung an die heilige Johanna4 verdeutlicht sein Anliegen: Jahrhundertelang war die Frau, die 1429/31 für Frankreich die entscheidende Wende in seinem Hundertjährigen Krieg gegen England heraufbeschworen hatte, nahezu vergessen, bis sie am Anfang des 19. Jahrhunderts im Gefolge der Französischen Revolution und ihrer politischen Lagerbildungen im gegensätzlichem Sinne ›wiederentdeckt‹ wurde: von der königs- und kirchentreuen Rechten als gottgesandte Retterin Frankreichs und des französischen Königtums, von der republikanischen, laizistischen Linken als von König und Kirche verratenes Kind des Volkes. Die symbolische Aufladung ihrer Person unterlag somit stärksten Wandlungen, aber sie blieb trotzdem einer der Kristallisationskerne des französischen kollektiven Gedächtnisses. Solche symbolisch überhöhten historischen ›Orte‹ zu identifizieren und ihre wechselnden Formungen zu schildern, ist die neue Herausforderung an die Geschichtsschreibung.

Noras Bände sind, wie er selbst bekannt hat und wie seine Kritiker hervorgehoben haben, ein genuines Werk des französischen Geistes. Er fordert die französischen Historiker dazu auf, zur Betrachtung des Nationalen zurückzukehren und die Erinnerung im nationalen Rahmen zu pflegen, »weil in einem Land, dessen unvergleichliche Kontinuität das Gewicht einer langen Zeitspanne spüren läßt, die Legitimation jedes Geschichtsbruchs angesichts dieser Treue zur Vergangenheit allein durch deren Rekonstruktion und permanente Neuerschaffung möglich ist. Die Engländer haben die Tradition, wir aber haben die Erinnerung.«5 Aber dass Nora sich so ausschließlich auf französische Erinnerungsorte bezog, hat den Erfolg seiner Konzeption andernorts nicht beeinträchtigt. In mehreren europäischen Ländern ist sie aufgenommen und entsprechend ihren jeweiligen historisch-politischen Traditionen abgewandelt worden.

Besonderen Anklang hat sie in Deutschland gefunden, hier wirkten die von den in Berlin lehrenden Historikern Etienne François und Hagen Schulze 2001 in drei Bänden herausbrachten »Deutschen Erinnerungsorte« als Vorbild.6 Die beiden Herausgeber beziehen sich ausdrücklich auf den einleitend besonders gewürdigten Nora und seine Leistung und führen zugleich seinen Ansatz für deutsche Verhältnisse weiter, indem sie den Leitbegriff Erinnerungsort unter Aufnahme der Beobachtungen Jan Assmanns zum kulturellen Gedächtnis7 zu schärfen suchen. Sie heben hervor, dass der Erinnerungsort als Metapher zu verstehen ist, dass Erinnerungsorte ebenso materieller wie immaterieller Natur sein können, dass darunter etwa reale wie mythische Gestalten und Ereignisse, Gebäude und Denkmäler, Institutionen und Begriffe, Bücher und Kunstwerke zu fassen sind. Für die Einstufung als Erinnerungsort ist ausschlaggebend, dass ihm eine symbolische Funktion zugesprochen wird, dass er wegen seiner ihm beigegebenen Bedeutung und Sinn auf Anklang in einer großen Gemeinschaft stößt. »Es handelt sich um langlebige, Generationen überdauernden Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die durch einen Überschuß an symbolischer und emotionaler Dimension gekennzeichnet, in gesellschaftliche, kulturelle und politischen Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise seiner Wahrnehmung, Aneignung und Anwendung und Übertragung verändert.«8

Von Nora heben sich François und Schulze dadurch ab, dass sie nicht wie dieser einen in sich geschlossenen (französischen) Gedächtnisraum beschreiben, sondern Deutschland und die deutsche Erinnerungskultur zu den Nachbarn und nach Europa öffnen wollen, indem sie bewusst geteilte Erinnerungsorte, also solche, die für Deutschland wie für andere Nationen mit unterschiedlichen Sichten gleichermaßen bedeutsam sind – man denke für Deutschland und Frankreich etwa an Karl den Großen oder Charlemagne oder für Deutschland und die Sowjetunion/Russland an Stalingrad –, einbeziehen. François und Schulze berücksichtigen überhaupt den Blick von außen, ergänzend zu dem Blick von innen. Zwar haben sie ebenso wie Nora den nationalen Rahmen gewählt, betonen aber ausdrücklich dessen Begrenztheit, denn neben den nationalen Erinnerungen stehen etwa lokale, regionale, generationsspezifische und soziale Erinnerungen, wie denn überhaupt jede soziale Gemeinschaft ihre kollektiven Erinnerungen schafft und pflegt. Die Identität der Deutschen, die sich in den deutschen Erinnerungsorten widerspiegelt, stellt nur einen Teilaspekt dar, neben ihr stehen andere Identitäten, unter denen die der deutschen Länder herausragen, weil der Gang der deutschen Geschichte seit dem hohen Mittelalter bekanntlich im Gegensatz zu Frankreich keine übermächtige Zentralgewalt hervorgebracht hat, sondern den Landesherrschaften, Territorien und Ländern großen, spürbaren Anteil am Reich und an dessen Entwicklung hat zukommen lassen. Ihre Eigenständigkeit ist etwa daran greifbar, dass sich in ihnen eigene Landeshistoriographien ausgebildet haben, dass eine Geschichtsschreibung das jeweilige Land in den Mittelpunkt rückte, dessen vergangene Entwicklung beschrieb und so die Grundlage für eine eigene Erinnerungskultur schuf.

Dass die Brandenburgische Historische Kommission e.V. brandenburgische Erinnerungsorte zum Thema eines Sammelwerkes machen sollte, zu dem sich anlässlich ihres 25-jährigen Jubiläums ihre Mitglieder ebenso wie ihre Freunde in gemeinsamer Anstrengung verbinden würden, war eine Anregung, die im Vorstand der Kommission ebenso wie unter den angesprochenen Interessenten sogleich auf breite Zustimmung stieß. Denn wer über Erinnerungsorte der mehr als 1.000-jährigen brandenburgischen Geschichte nachdenkt, ist gezwungen, sich einmal von einem ungewohnten Blickpunkt aus zu vergegenwärtigen, was denn überhaupt den Gegenstand der brandenburgischen Landesgeschichtsforschung ausmacht, was in ihr Aufgabengebiet fällt. Welche Personen, Orte, Ereignisse, Zustände, Begriffe, Sachverhalte, Denkmäler aus jüngerer oder älterer Vergangenheit haben zurückliegende wie derzeitige Generationen und breite Bevölkerungskreise jenseits der Wissenschaft in ihrer Vorstellungswelt so bewusst bewahrt, dass sie sogleich in den Sinn kommen, wenn nach besonderen Merkmalen oder Eigenarten Brandenburgs oder der Brandenburger gefragt wird? Dem einen mag die ›märkische Kiefer‹ einfallen, dem anderen die ›Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches‹, oder man denkt an eine außergewöhnliche Landschaft wie das ›Oderbruch‹ oder die ›Langen Kerls‹ des ›Soldatenkönigs‹. Welche Vergangenheit(en) tauchen vorrangig in der Rückbesinnung der Menschen auf, wenn sie aufgefordert sind, die die Geschichte Brandenburgs prägenden Elemente zu benennen? Welcher historische Vorgang ist über lange Zeiträume hinweg in den Erzählungen der Bevölkerung oder wenigstens einzelner Bevölkerungskreise gegenwärtig geblieben, weil ihm für den Fortgang der brandenburgischen Geschichte besondere, außergewöhnliche Bedeutung zugeschrieben wurde, weil sich in ihm ›symbolisch‹ deren auszeichnende Eigenarten verdichteten?

Der zweigeteilte Titel des Buches weist darauf hin, dass ein Unterschied zwischen ›brandenburgischen Erinnerungsorten‹ und ›Erinnerungsorten in Brandenburg‹ besteht. Die Masse der Beiträge ist dem ersten Typus zuzuordnen, sie behandeln Erinnerungsorte, die eindeutig ein Teil der brandenburgischen Landesgeschichte sind und ihren Fortgang bestimmt haben. Immerhin ist Brandenburg nach nachwirkenden Vorläufern aus dem 10. Jahrhundert seit dem 12. Jahrhundert innerhalb Deutschlands nahezu ununterbrochen, wenn auch in wechselnden Verfassungsformen und wechselnden Grenzen, als Mark Brandenburg, als Provinz Brandenburg, als Land Brandenburg, eine eigenständige politische Einheit mit einem eigenen historisch-politischen Selbstbewusstsein gewesen, die durch die Tätigkeiten und Leistungen seiner Herrscher und seiner Bewohner merkliche, mit Brandenburg gedanklich verknüpfte Spuren hinterlassen hat. Überschriften wie das ›Baumblütenfest Werder‹, die ›Sängerstadt Finsterwalde‹, die ›Planstadt Eisenhüttenstadt‹ lenken die Aufmerksamkeit auf Orte in Brandenburg und auf Anstrengungen und Ergebnisse, die an ihnen unter bestimmten historischen Umständen erreicht und wegen ihrer eindrucksvollen Ausstrahlungskraft in den Rang eines brandenburgischen Markenzeichens erhoben worden sind. Andere Stichworte lassen sich hingegen nicht so eindeutig und ausschließlich Brandenburg zuweisen, wenn man etwa an solche denkt, die wegen seiner neuzeitlichen Entwicklung eher die Assoziation an Preußen hervorrufen. Der ›Soldatenkönig‹ Friedrich Wilhelm I. lebt als König von Preußen und nicht als Markgraf und Kurfürsten von Brandenburg fort, und seine politische Arbeit galt dem gesamten Königreich Preußen und nicht nur der Mark Brandenburg. Allerdings wirkte er besonders nachhaltig in der brandenburgischen Zentralprovinz seines werdenden Gesamtstaates und drückte ihr etwa mit einem Bau wie der Potsdamer ›Garnisonkirche‹ seinen Stempel auf. Diese Beobachtung verweist auf die Einsicht von François und Schulze, dass Erinnerungsorte nicht nur einer einzigen Erinnerungsgemeinschaft zugehören. Erst recht kann nicht mehr von einem brandenburgischen Erinnerungsort die Rede sein, wenn das angesprochene historische Ereignis sich zwar in Brandenburg abspielte, aber nicht unmittelbaren Bezug zu seinen Geschicken hatte und in seinem Kern in außer- oder überbrandenburgischen Zusammenhängen einzufügen ist. Die ›Potsdamer Konferenz‹ fand 1945 zwar in Brandenburg, im Hohenzollern-Schloss Cecilienhof, statt, aber die Verhandlungen der alliierten Siegermächte drehten sich um die deutsche und europäische Nachkriegsordnung und berührten Brandenburg allenfalls indirekt im Rahmen umfassender Neuregelungen. Die Bilder und Filme von der Konferenz, den Konferenzteilnehmern und dem Konferenzort sind um die Welt gegangen und sind so gewissermaßen der welt- oder globalgeschichtlichen Erinnerung einverleibt worden, aber vor Ort in Brandenburg sind, abhängig von den herrschenden politisch-gesellschaftlichen Systemen und ihren jeweiligen Geschichtsauffassungen, Gedächtnisstätten von unterschiedlicher Ausprägung und Deutung eingerichtet worden, die allein schon als solche Aufmerksamkeit erwecken und bis heute Kontroversen auslösen. Das Thema unseres Buches wäre zu seinem Schaden unnötigerweise verkürzt, wenn auf solche Erinnerungsorte ›in Brandenburg‹ verzichtet würde.

Die Beiträge dieses Bandes sind chronologisch aneinandergereiht. Dabei dient als Bezugspunkt, an dem sich die Einordnung orientiert, der Zeitpunkt oder der Zeitraum des historischen Vorganges, an dem sich die Erinnerung entzündet hat. Vorangestellt sind wenige Artikel, deren Gegenstände wie die ›märkischen Dialekte‹ oder das ›sorbische/wendische Brandenburg‹ nur epochenübergreifend betrachtet werden können. Wenn so der Leser in seiner Lektüre voranschreitet von den ältesten mittelalterlichen Erinnerungsorten über die neuzeitlichen des 16. bis 20. Jahrhunderts und schließlich am unmittelbaren Rand der Gegenwart mit Geschehnissen des frühen 21. Jahrhunderts ankommt, vermag er zugleich zu erkennen, wie sich in der Abfolge der Jahrhunderte mit den herausragenden neuen Entwicklungen und ihren markanten Ergebnissen neue Erinnerungen oder neue Erinnerungsringe angeschlossen haben, welche Erinnerungsorte zugleich an Gewicht und Aufmerksamkeit gewonnen haben und welche im Bewusstsein und in der Wirkung zurückgetreten sind wegen des Vorranges jüngerer Vorgänge. Die Artikel zeigen in aller Deutlichkeit, dass die Erinnerungen an ein und dasselbe historische Objekt starken Wandlungen unterliegen, dass sie in ihrer Intensität und in ihrem Gehalt und ihrer Deutung erheblich schwanken. Der ›Schlacht von Großbeeren‹ wurde als einer der wichtigsten brandenburgischen Schlachtorte der Befreiungskriege gegen Napoleon mindestens ein Jahrhundert lang gedacht, weil sie sich in die Erzählung vom Wiederaufstieg Preußens gegen den französischen Kaiser einfügte. Ein weiteres Jahrhundert später haben sich die überkommenen Erinnerungsrituale im Volksfest verflüchtigt, und zugleich steht die ›Feier‹ eines Kriegsgeschehens in der pazifistischen Kritik. Am Artikel ›Rettet Horno!‹ ist zu sehen, wie aus der noch nicht verheilten Narbe einer scharfen politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung der jüngsten Vergangenheit eine Erinnerung zu erwachsen im Begriff ist, deren Dauerhaftigkeit und Intensität abzuwarten bleibt.

Wenn sich das geschichtswissenschaftliche Konzept der Erinnerungsorte der kollektiven Erinnerung sozialer Gemeinschaften annimmt und diese in ihrer Entstehung und in ihrem Wandel zu erhellen trachtet, übersehen seine Vertreter nicht, dass diese Gemeinschaften ihr Bild der Vergangenheit auf andere Weise und mit anderen Erwartungen gestalten als die professionelle Historikerzunft. Diese hat seit dem 19. Jahrhundert ein methodisches Instrumentarium entwickelt und ständig verfeinert, mit dessen Einsatz die Geschichte möglichst objektiv erforscht und erkannt werden soll, »wie es eigentlich gewesen ist«, wie es Leopold von Ranke, einer der Begründer der modernen Geschichtswissenschaft, einmal in einer klassisch gewordenen Formulierung ausgedrückt hat.9 Es überrascht keineswegs, dass die kollektive Erinnerung von Nationen, Staaten und Regionen in ihren Erzählungen von den Darstellungen der Fachwissenschaftler erheblich abweichen, unter Umständen ihr sogar diametral widersprechen. Die in der brandenburg-preußischen Geschichte vielgerühmte ›Brandenburger Toleranz‹ hat ihre historische Herleitung im sogenannten ›Potsdamer Toleranzedikt‹ des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von 1685 – irrtümlicherweise, wie der Fachhistoriker anmerkt, weil hier nicht die vermeintlich propagierte Toleranz, sondern ökonomische Aspekte und die Aufnahme von reformierten Glaubensverwandten des Großen Kurfürsten im Zentrum standen und eben nicht Lutheraner oder gar Katholiken.

Aber die Untersuchung der Erinnerungsorte kann niemals darauf hinauslaufen, das kollektive Gedächtnis aller seiner ihm aus Sicht der kritischen Historie unterlaufenen Fehler zu überführen, es so ins Abseits zu drängen oder gar regelrecht zu dämonisieren. Es kann hier nur Aufgabe der Geschichtswissenschaft sein, ohne erhobenen, belehrenden Zeigefinger zu erläutern und zu beschreiben, wie Erinnerungsorte aufkommen, aufblühen und wieder vergehen, wie Gesellschaften und gesellschaftliche Gruppen sich ihr Bild von der Vergangenheit formen und immer wieder gemäß den Belangen und Erwartungen ihrer jeweiligen Gegenwart umformen und neugestalten. Die kollektive Erinnerung der Brandenburger über und in Brandenburg ist der Gegenstand und zugleich das Ziel der Erkenntnis, nicht aber deren vollständige Destruktion.

Das vorliegende Werk beansprucht nicht, eine verbindliche Liste brandenburgischer Erinnerungsorte und Erinnerungsorte in Brandenburg aufzustellen und damit die hier aufgenommenen gewissermaßen zu kanonisieren. In den Vorüberlegungen erwies sich rasch, dass manche andere als die hier berücksichtigten Orte die Behandlung verdient hätten, wie schon Nora sowie François und Schulze für ihre französischen und deutschen Erinnerungsorte betont haben, sie leicht um die doppelte oder dreifache Anzahl vermehren zu können. In unserem Fall erwies sich die Suche der Herausgeber nach sachlich überzeugenden Erinnerungsorten und zugleich ihre Suche nach kompetenten Autoren als so erfolgreich, dass schließlich eine Zweiteilung des Gesamtwerkes beschlossen wurde. Dem jetzigen Band wird mithin im Laufe des nächsten Jahres ein ungefähr gleich starker Band mit einer ähnlichen Anzahl von Artikeln folgen – der eine oder andere ist in den zuvor genannten Beispielen schon angeführt. Im zweiten Band werden die Leserinnen und Leser ebenso wie hier im ersten mit einem erneuten Durchgang brandenburgische Erinnerungsorte vom Mittelalter bis zur Gegenwart aufsuchen, so dass beide Teile infolge einer fehlenden strengen inhaltlichen Abgrenzung voneinander zusammen als Einheit betrachtet werden müssen. Die Herausgeber wünschen sich, dass am Ende ihre Gesamtschau eine geneigte Leserschaft finden wird, nicht nur und nicht in erster Linie unter ihren Fachkolleginnen und -kollegen, sondern in den geschichtsinteressierten Kreisen der Bevölkerung, damit sie alle näher und genauer unterrichtet werden über die weitverbreiteten historischen Erinnerungen an das Land Brandenburg, die sie in den öffentlichen Debatten ihrer kleineren oder größeren Lebensumwelt in sich aufgenommen haben. Gerade dieses Publikum erwartet kein gelehrtes wissenschaftliches Werk zur fachlichen Selbstverständigung, sondern Aufklärung in verständlicher, nachvollziehbarer Weise. Die nachfolgenden Beiträge enthalten zwar Nachweise über die von ihnen benutzten Quellen und Literatur (in sehr begrenztem Umfange), aber sie entbehren aller methodischer Erwägungen, die in einer fachinternen Debatte angebracht wären, und bemühen sich stattdessen, knapp und präzise, zuweilen auch im essayistischen Stil ihre jeweiligen Erinnerungsorte zu beleuchten und sie so gefällig vor Augen zu führen, dass der Leser nach der Lektüre sich klar gemacht hat, warum sie ihren Weg in das kollektive Gedächtnis Brandenburgs gefunden haben.

An dieser Stelle möchten die Herausgeber zunächst den Autorinnen und Autoren der Beiträge für deren Engagement danken. Die technische Realisierung der beiden Bände erfolgte durch den be.bra wissenschaft verlag, mit dem die Brandenburgische Historische Kommission e.V. schon in der Vergangenheit in zahlreichen Buchprojekten fruchtbar zusammengearbeitet hat. Stellvertretend bedanken wir uns herzlich bei Herrn Dr. Robert Zagolla, der stets hilfsbereit dieses Buchprojekt begleitet hat. Für die sorgfältige Korrektur der Beiträge sorgten die Wissenschaftlichen Hilfskräfte Marco Barchfeld B.A. und Veronika von Lonski M.A. (beide Universität Potsdam), denen hier ebenfalls gedankt wird, zudem Frau Ingrid Kirschey-Feix, die vom Verlag als Lektorin bestellt worden ist. Für die mitunter mühsame Suche nach den Bildern und Bildrechten schulden die Herausgeber Herrn Marco Kollenberg M.A. (Universität Potsdam) herzlichen Dank.

Potsdam, im Oktober 2021

Anmerkungen

1 Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, 3 Bde., Paris 1984/92.

2 Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925.

3 Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1998, S. 7.

4 Michel Winock, Jeanne d’Arc, in: Pierre Nora (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S. 365 – 410.

5 PIerre Nora, Wie lässt sich heute eine Geschichte Frankreichs schreiben?, in: Ders. (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S. 15 –27, hier S. 22.

6 Etienne François/Hagen Schulze (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001.

7 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.

8 Etienne François/Hagen Schulze, Einleitung, in: Dies. (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1 (wie Anm. 6), S. 9–24, hier S. 18.

9 Aus der Vorrede des Werkes von Leopold von Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535, Bd. 1, Leipzig/Berlin 1824, S. V.



Der Beitrag erschien in:

Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 7-13.

 


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