Rettet Horno!

Iris Berndt

Der Aufruf »Rettet Horno!« erschallte zunächst zaghaft in Horno selbst, wurde aber in dem Jahrzehnt nach 1990 eine Bewegung, die deutschlandweit und international Unterstützung erfuhr. Horno (niedersorbisch Rogow) war ein Straßenangerdorf, achtzehn Kilometer nordöstlich von Cottbus (seit 1993 im Landkreis Spree-Neiße). Es war durch Beschluss des Bezirkstages Cottbus von 19771 für die Abbaggerung vorgesehen wie vor ihm über hundert Dörfer und Ortsteile allein im Lausitzer Revier. Der Beitritt Ostdeutschlands zur Bundesrepublik Deutschland zum 3. Oktober 1990 und neue Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung in Aneignung der ›freiheitlich-demokratischen Grundordnung‹ bildeten das Fundament des wachsenden Widerstandes. Eine Flut von publizistischen und wissenschaftlichen Beiträgen, Gutachten, Gerichtsurteilen und Veranstaltungen ist Ausdruck der Intensität, mit der dieser Kampf ausgefochten wurde.2 Es war für die Akteure ein Kampf bis und über die eigenen körperlichen und seelischen Grenzen, denn es ging nicht nur um Horno, sondern um mehr. Weil sie das spürten, dokumentierten sie nicht nur ihren Kampf, sondern auch ihre Niederlage akribisch.3

»Rettet Horno!« bezeichnet einen Höhepunkt im bis heute ungelösten Konflikt Mensch– Erde: Seit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert und den steigenden Ansprüchen der Zivilgesellschaft war der benötigte Energiebedarf exponentiell gewachsen. Der Braunkohlentagebau, der in den 1970er und 1980er Jahren sein Maximum erreichte, war in Ostdeutschland wichtigste Grundlage des gepriesenen Fortschritts, dem Identität und Geschichte geopfert wurden. Die Bezeichnung des Bezirkes Cottbus als ›Energiebezirk‹ ist Ausdruck dieser vom unmittelbaren Nutzen für den Menschen bestimmten Denkweise im Umgang mit der Natur.

Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe hatte versprochen, dass Horno das letzte Dorf sein würde, das abgebaggert wird. Schon 2007 folgte im Mitteldeutschen Revier das Dorf Heuersdorf, dessen im Kern mittelalterliche Dorfkirche nach Borna transloziert wurde. Noch 2018 wurde die neoromanische Lambertuskirche in Immerath im Niederrheinischen Kohlerevier (Garzweiler II) abgetragen. Proschim (niedersorb. Prožym) und die Stadt Welzow (niedersorb. Wjelcej) – beide wie Horno seit 1993 im Landkreis Spree-Neiße – hatten jahrelang nach dem Vorbild von Horno gekämpft. Erst am 14. Januar 2021 wurde mit hohen Entschädigungszahlungen für die Kohlekonzerne die Erweiterung des Tagebaus Welzow-Süd aufgegeben. Damit sind Proschim und Welzow gerettet. Dem Tagebau Cottbus-Nord weichen mussten 2007 die Lakomaer Teiche, für die sich vor allem Naturschützer jahrelang eingesetzt hatten. Aber es geht weiter. Der auf der heute polnischen Seite der Niederlausitz gelegene Tagebau Guben-Brody ist bis 2070 geplant. Bei dem also weiterhin ungelösten Konflikt geht es um die Frage am Anfang allen Fragens: ›Wie wollen wir leben?‹

Schmerzhafte Erinnerungen

Ganz bewusst hat der sorbische Schriftsteller Jurij Koch im dreißigsten Jahr des ostdeutschen Beitritts zur ›freiheitlich-demokratischen Grundordnung‹ gleichsam sein Tagebuch des Kampfes um Horno herausgegeben. Er spürt der Leerstelle nach, leergeräumt nicht durch Krieg, sondern für die Gewährleistung des industriell-technischen Fortschritts. Seit der mittelalterlichen Besiedlung des Landes hatten sich auch in der Lausitz die Dörfer zwei bis vier Kilometer auseinander befunden; jetzt sind Entfernungen von zwanzig Kilometern keine Seltenheit. Der Bergbau beansprucht fortwährend Kosten, ›Ewigkeitskosten‹ genannt, auch über sein im Koalitionsvertrag für 2038 in Aussicht genommenes Ende auf deutscher Seite hinaus. Die ehemaligen Tagebaue haben sich durch Seen oder Rekultivierungsflächen in die Landschaft eingebrannt. »Es handelt sich um langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert.«4

Jurij Koch gehörte zu denen, die für Horno gekämpft hatten. Mit Präzision verbindet er Gegenwart und Vergangenheit mit Sätzen wie: »Heute vor 10 Jahren …« oder »Das ist das Datum von …«. Erinnerung an diese zwölf Jahre hat sich tief eingebrannt. Das erste Mal kochte die Wut am 30. März 1993 so richtig hoch, als der Beschluss der brandenburgischen Landesregierung zur Weiterführung des Tagebaus Jänschwalde über den Hornoer Berg hinaus mit Inanspruchnahme des sorbischen Dorfes Horno gefasst wurde. Geradezu körperlich erinnert Koch den 29. November 2004, als die Kirche von Horno gesprengt wurde. Jeder Hornoer wird Details hinzusetzen wie, dass die Sprengung unangekündigt war, um Schaulustige zu vermeiden, dass sie zwei Anläufe benötigte und dass er sich die Ohren zuhielt5 oder dass die Hornoer Kirche damit eine von insgesamt 27 Kirchen der Nieder- und Oberlausitz ist, die zwischen 1964 und 2004 abgetragen wurden (Abb. 1).6

Diese Detailversessenheit ist Teil von Erinnern und wird fürs Weiterleben gebraucht. Es ist der Wunsch, dass sich den Nachfolgenden ebensolche Bilder einbrennen, wie sie in denen brennen, die für Horno dabei waren. Deshalb ist die Aufzählung der Etappen mit kleinen Siegen und großen Niederlagen so grundlegend. Sozusagen, was war, wird zu einem Sieg, der hilft, die Niederlage zu verkraften.7 2003 wurden die verbliebenen 280 von 380 Einwohnern in Neu-Horno, einem Ortsteil von Forst/Lausitz, angesiedelt. Im Juni und August 2004 wurde der letzte Hornoer durch die Vattenfall Europe Mining AG enteignet, aber noch im April und Mai 2005 stand als letztes Gehöft das der Eheleute Domain. Ihre Klage gegen ihre Enteignung war dann am 2. November vor dem Oberverwaltungsgericht im Scheitern begriffen. Sie stimmten der Umsiedlung zu, um einer Zwangsräumung zuvorzukommen. Im Dezember 2005 war das Dorf vollständig beräumt und wurde am 16. Dezember 2005 aus dem Ortschaftsverzeichnis gelöscht (Abb. 2).

Aber es muss von vorn begonnen werden, wenigstens da, als 1990 die Industrie-Betriebe der DDR Abnahme- und Produktionseinbrüche, Stilllegungen oder Verlagerungen erlitten und als die Hauptabnehmer der hauptsächlich aus heimischer Braunkohle gewonnenen Energie wegbrachen. Heizanlagen wurden auf Gas und Öl umgerüstet. Brikettfabriken wurden stillgelegt und gleich auch nahegelegene Braunkohletagebaue, obwohl diese noch nicht ausgekohlt waren – im Lausitzer Revier etwa Klettwitz-Nord. Dieser ersten Nachwende-Welle von Schließung und Entlassung fielen bereits im Lausitzer Revier allein 30.000 Arbeitsplätze zum Opfer, noch arbeiten hier 8.000 Menschen, bundesweit nur noch 20.000.8

Zunächst war 1990 die Lausitzer Braunkohle AG (LAUBAG) gegründet worden, zu der das Volkseigene Braunkohlenkombinat Senftenberg privatisiert wurde. 1993 nahm sie auch die Energiewerke Schwarze Pumpe Aktiengesellschaft (ESPAG) in Besitz – das ehemalige Volkseigene Gaskombinat Schwarze Pumpe. 1994 wurde die LAUBAG von der Treuhandanstalt an ein Konsortium deutscher Energieversorgungsunternehmen verkauft. 2001 erwarben die Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW), eine Tochtergesellschaft von Vattenfall, die Aktienmehrheit an der LAUBAG. 2002 ging diese in der Gesellschaft Vattenfall Europe auf und wurde als Vattenfall Europe Mining AG weitergeführt. 2016 verkaufte Vattenfall diese wiederum, und es entstand die Lausitz Energie Bergbau AG (LEAG), die bis heute verantwortlich ist für die Tagebaue der Lausitz: Das umfasst Aufgaben wie die vorbereitende Erschließung, den eigentlichen Kohleabbau und die technische Abwicklung, auch der Verstromung, ebenso die schadlose Regulierung des Wasserhaushalts und die Sicherung und Rekultivierung von Tagebauen. Für die Tagebaurestlöcher wird eine gewaltige Menge an Verfüll- und Sicherungsmaterial benötigt, vor allem Lehm. Immer wieder ist deshalb übrigens der etwa 100 Meter hohe Hornoer Berg als ein wichtiger Grund für die Abbaggerung von Horno genannt worden.9

Das breite Bündnis und der optimistische Beginn

Es gab seit den 1980er Jahren eine wachsende Umweltbewegung, gefordert wurde eine Abkehr von der schädlichen Kohle und stattdessen die verstärkte Suche nach alternativen Energiequellen. Die Grünen feierten Wahlerfolge. Auch in der Evangelischen Kirche war seit den 1980er Jahren sowohl in Ostdeutschland, als auch in Westberlin eine starke Umweltbewegung gewachsen.10 Diese vielfältige Bewegung zur Bewahrung der Schöpfung mit einem Zentrum der Aktivitäten gegen den Braunkohlenabbau etwa in Bitterfeld und dem Kirchlichen Forschungsheim in Wittenberg mit ihren »Briefen zum Konflikt Mensch–Erde« entwickelte bereits viele Initiativen zur Energie-Einsparung und zur Propagierung alternativer Energiequellen. Seit 1971 gab es die Umweltzeitschrift »Pro Terra. Umweltforum der Evangelischen Kirche von West-Berlin«, die bis 1997 von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg fortgesetzt wurde.11 Teilweise mit Spendengeldern finanziert, wurde die Stelle eines Umweltbeauftragten der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg geschaffen, die im Zeitraum 1995 bis 2012 mit Pfarrer Reinhard Dallchow eine engagierte Besetzung fand. Er stand nicht nur den Hornoern zur Seite, sondern trat aktiv für die breite Durchsetzung alternativer Energiekonzepte wie Wind- und Solarkraft sowie Thermoenergie ein. Auch in der Landeskirche versuchte man, Horno beizustehen.12 Von den anerkannten Umweltverbänden unterstützten etwa der BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschlands) und die von ostdeutschen Umweltbewegten als Plattform 1990 gegründete Grüne Liga. Netzwerk ökologischer Bewegungen, vor allem ihre Ortsgruppen in Cottbus, die Initiative »Rettet Horno!« Auch von Manfred Stolpe und anderen Politikern gab es aufmunternde Signale, die ›freiheitlich-demokratische Grundordnung‹ mit Leben zu erfüllen. Daran erinnerte Christoph Dieckmann in seinem Nachruf auf Horno im September 2003: »›Vielleicht werden unsere Nachkommen sagen: Die Idioten!‹ So sprach, lang ist es her, [1991] in einer offenen Minute Manfred Stolpe. Der hatte nach der Wende dem Dorf die Rettung versprochen. Jetzt herrsche Demokratie, da sei auch Horno seiner Freiheit Schmied. Bis heute feiern die Dörfler an jedem 3. Oktober ein Fest, aber Stolpe ließ sich schon 1993 zum Thema Horno nicht mehr sprechen. Dafür fackelte uns sein Umweltminister Matthias Platzeck (damals Bündnis 90) eine glühende Pro-Horno-Rede aufs Band. Von Heimat und Demut vor der Schöpfung predigte der junge Mann, von Verzicht statt Wachstum, und wie ihn ekle vor Politikern, die zur Wirtschaft rennen, bevor sie entscheiden. Seit 1996 ist Matthias Platzeck in der SPD, seit 2002 Ministerpräsident. Keinerlei Zeit fand er für ein Gespräch, ein Wort nur zu Hornos Finale.«13

Horno war noch 1880 vollständig sorbisch gewesen, von den 606 Einwohnern hatten nur der Pfarrer, der Müller, der Tischler, der Wirt und des Lehrers Frau deutsch gesprochen. Deren Kinder aber sprachen mit den anderen Dorfkindern wendisch.14 Seit 1970 gab es eine sorbische Ortsgruppe in Horno, die Sprache und Kultur pflegte. Auch die sorbische Dachorganisation Domowina, der beim brandenburgischen Landtag angesiedelte Sorbenrat sowie einzelne Bürger schlossen sich »Rettet Horno!« an. Sie reichten beispielsweise eine Normenkontrollklage beim Landesverfassungsgericht gegen das Braunkohlengrundlagengesetz wegen der Verletzung des Artikels 25 der Landesverfassung ein, der die Rechte der Sorben betrifft.

Schon zu DDR-Zeiten war die Dorfgemeinschaft wegen der bevorstehenden Abbaggerung zusammengerückt. Das starke Gemeinschaftsgefühl zeigte sich erstaunten Horno-Besuchern etwa in gepflegten Rabatten, einer frisch asphaltierten Dorfstraße, einem neuen Kirchendach oder einer 1991 eingebauten Ölheizung im Kindergarten.15 1997 konnte die wegen der Mauerrisse erneut sanierte Kirche wieder geweiht werden, 60.000 Euro Spendengelder waren hierfür eingegangen. Die Einwohner sammelten ihr Brauchwasser im Spülbecken und brachten es in Schüsseln und Eimern zu Blumen und auch Bäumen – und dies auch in Zeiten, als der Lärm der nahen Abraumbagger und die Grundwasserabsenkung das Leben im Dorf bereits erschwerten. Wichtig für dieses großartige Miteinander im Dorf, den gemeinsamen Kampf und dann auch die gemeinsame Umsiedlung waren Persönlichkeiten wie die 1994 aus Westberlin hierher gezogene Pfarrerin Dagmar Wellenbrink-Dudat16 und der von 1989 bis 2019 als Bürgermeister und Ortsvorsteher von Horno/Neu-Horno tätige Bernd Siegert, außerdem das Ehepaar Ursula und Werner Domain, die als letzte Horno verließen. Zahlreiche Menschen von überall her, darunter viele Denkmalpfleger, Journalisten, Künstler, Kunsthistoriker und Lehrer, gehörten zu den ›Rettet-Horno-Befürwortern‹. Genannt seien Franz Alt, Eva und Helmut Börsch-Supan, außerdem Armin Fuhrer, der Brite Michael Gromm, der schon erwähnte Christoph Dieckmann, der Rabbiner Andreas Nachama, der Direktor der »Topographie des Terrors« war, oder Conny Wierek. Der sorbische Schriftsteller Jurij Koch hatte 1996 einen Aufruf initiiert, dem über fünfzig Schriftsteller folgten, darunter Volker Braun, Christa und Gerhard Wolf sowie Günter Grass.17 Typisch für die allgemeine Sympathie war die überregionale Berichterstattung im Gegensatz zur lokalen im Südosten des Landes. Der den Abriss Hornos besiegelnde Beschluss vom 12. Juni 1998 im Brandenburger Landtag wurde in den öffentlich-rechtlichen Medien (rbb) kritisch als »Auslaufmodell« kommentiert, die »Abgeordneten seien politisch Kurzsichtige«.18

Die Niederlage erinnern: Wie »Rettet Horno!« verlor

Jurij Koch beschreibt in seinem Tagebuch zu dreißig Jahren Deutsche Einheit, wie die Politik sich verhielt. Wie sie schwankend, undurchsichtig und von wirtschaftlichen Interessen bestimmt war. Von verlorenem Vertrauen ist auch in den zahlreichen Zeitungsartikeln jener Zeit immer wieder zu lesen. Die Fronten hatten sich verhärtet, wertvolle Jahre für die Umgestaltung der Lausitz wurden vertan.19 Die Politik folgte vor allem dem Argument, dass die Arbeitskräfte nur durch die Abbaggerung von Horno erhalten werden könnten. Eine Umfahrung wurde trotz der Randlage Hornos innerhalb des Tagebaus Jänschwalde nie ernsthaft diskutiert. Die brandenburgische Sozialministerin Regine Hildebrandt stellte sich den Hornoern im Gespräch, wenn sie auch in klaren Worten die brandenburgische Energiepolitik verteidigte. Im Gasthaus Horno sprach sie vor den versammelten Dorfbewohnern: »Nur mit Mittelstand und Handwerk werden wir hier nicht überleben. Der Tagebau Jänschwalde ist nicht nur der Störenfried, sondern mit dem Kraftwerk der Arbeitgeber von 5.000 Menschen auch in den nächsten Jahren.«20 Anders Bundeskanzler Gerhard Schröder: Er kam Anfang September 2000 auf seiner Landauf-Landab-Tour auch bis wenige Kilometer vor Horno, doch vermied er einen Besuch des Dorfes.21 Er hielt sich statt dessen in Cottbus auf, wo er mit Sportlern des damals in der Bundesliga spielenden Clubs Energie Cottbus Fußball spielte und den Kumpels vom Tagebau Jänschwalde seine Unterstützung signalisierte.

Bereits im Februar 1994 war ein Beschluss der brandenburgischen Landesregierung über die Verbindlichkeit des Braunkohlenplans Tagebau Jänschwalde erfolgt, gleich vier Wochen später erfolgte die Zulassung des Rahmenbetriebsplans der Lausitzer Braunkohle AG (LAUBAG) für den Tagebau Jänschwalde. Gegen diese Zulassung reichte die Gemeinde Horno zuerst Widerspruch und dann Klage beim Verwaltungsgericht Cottbus ein. Ein Sieg für die Hornoer war dann ein Jahr darauf, dass beim Landesverfassungsgericht am 1. Juni 1995 der Braunkohlenplan Tagebau Jänschwalde für verfassungswidrig erklärt wurde – Ergebnis einer Verfassungsbeschwerde der Gemeinde Horno gegen den Braunkohlenplan Tagebau Jänschwalde von März 1995.

Der Brandenburger Landtag besiegelte dann am 17. Juni 1997 den Anfang vom Ende für Horno. Er winkte das Braunkohlengrundlagengesetz (›Horno-Gesetz‹) durch. Die Gemeinde Horno wurde zur folgenden Kommunalwahl (September 1998) aufgelöst und in die Gemeinde Jänschwalde eingegliedert. Seitdem kam für Horno eine Niederlage nach der nächsten. Die im September 1997 eingereichte Normenkontrollklage beim Landesverfassungsgericht gegen das Braunkohlengrundlagengesetz wegen der Verletzung des Artikels 25 der Landesverfassung (Rechte der Sorben) und die Verfassungsbeschwerde der Gemeinde Horno gegen das gleiche Gesetz wurden vom Landesverfassungsgericht am 18. Juni 1998 zurückgewiesen. Im September 1998 wurde der zweite Braunkohlenplan für den Tagebau Jänschwalde von der brandenburgischen Landesregierung für verbindlich erklärt. Im August 1999 folgte der sachliche Teilplan 1 zur Umsiedlung von Horno. Im Dezember 1998 reichten Hornoer Bürger Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein. Diese Klage wurde von demselben im Mai 2000 als unzulässig zurückgewiesen.

Im Januar 1999 hatte das Verwaltungsgericht Cottbus auch die Klagen der Gemeinden und Bürger gegen die Zulassung des Rahmenbetriebsplanes Tagebau Jänschwalde als unzulässig zurückgewiesen. Zweimal gab es noch ein Atemholen. Im Juni 2000 gab das brandenburgische Verfassungsgericht einer Verfassungsbeschwerde der Horno-Nachbargemeinde Grießen gegen den (zweiten) Braunkohlenplan Tagebau Jänschwalde statt, wegen der mangelhaften demokratischen Legitimierung des Braunkohlenausschusses des Landes, und einige Wochen später mussten die Bagger vor dem Hornoer Berg stoppen, weil das Verwaltungsgericht Cottbus dem Eilantrag eines Hornoer Waldbesitzers stattgegeben hatte. Schon Ende September 2000 aber wurde der ›Bagger-Stopp‹ vom Oberverwaltungsgericht Frankfurt (Oder) aufgehoben.

Bereits im August 1998 hatten sich rund sechzig Prozent der Hornoer, falls Horno nicht gerettet werden könne, für eine Neuansiedlung im Stadtgebiet von Forst entschieden – nicht in das von der LAUBAG favorisierte Jänschwalde, zu welchem sie bereits eingemeindet waren. Die neue Ansiedlung befindet sich fünfzehn Kilometer südöstlich vom ehemaligen Dorf Horno. Im Februar 2001 wurde der Grundlagenvertrag zwischen dem Ortsbeirat Horno und der LAUBAG über eine eventuell notwendige Umsiedlung unterzeichnet.

Noch einmal gab es ein »Rettet Horno!«-Signal (Abb. 3). Nach der Übernahme von VEAG und LAUBAG durch den schwedischen Staatskonzern Vattenfall hatte sich der Kampf um Horno nach Schweden verlagert. Am 27. September 2001 fuhren die mutigsten Hornoer zu einer Anhörung im schwedischen Reichstag nach Stockholm (Abb. 4). Mit dabei waren etwa von der Domowina Harald Konzack mit Jurij Koch, von der Gemeinde Bernd Siegert, Dagmar Wellenbrink-Dudat, dazu natürlich auch Michael Gromm. Es gab Betroffenheit im schwedischen Parlament, eine überwältigende Anteilnahme der Presse – aber keine Änderung der Lage. Michael Gromm, der Brite mit sorbischen Wurzeln, beschrieb das Anliegen der Gruppe in Schweden so: »Der Öffentlichkeit soll deutlich gemacht werden, dass die Zerstörung von sorbischen – und anderen – Dörfern in Deutschland im krassen Gegensatz zu Schwedens langjährigem Ruf für Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte steht.«22

Erinnerung an Horno

Als der Zwangsumzug unumkehrbar war, musste er gestaltet werden. Dabei half die in den Jahren zusammengewachsene Gemeinde. Die Mahnandachten für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung wurden weitergeführt und zogen, beginnend am 13. August 2000, seitdem, zweimal monatlich sonntags um 14 Uhr, von Horno nach Berlin und wieder zurück. Gemeinden der Region, die Landeskirche und darüber hinaus waren eingebunden. Es ging eine große Kraft davon aus und die Botschaft, dass eine auf solche Weise erstrittene Abbaggerung eines Dorfes nicht dem Gemeinwohl dienen kann. Zum ersten Gottesdienst kam Superintendent Michael Moogk aus Spremberg, aus ganz Deutschland kamen die Menschen. Die Kirche war voll in Horno. Dann kam der letzte Gottesdienst am 22. September 2003, den die Hornoer, auf eigenen Wunsch ohne Medien, still und manche mit Tränen begingen. Auch Landesbischof Wolfgang Huber hatte Rücksicht auf die Hornoer genommen und auf seine Mitwirkung am Gottesdienst verzichtet. Es war zuvor an diesem Orte mehr als einmal gesagt worden, dass ziviler Ungehorsam ein wichtiger Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft ist, an diesem letzten Beisammensein in ihrer Kirche, der bereits die Turmhaube fehlte, ging es den Hornoern nur um ihren Abschied und ihre Würde. Sie haben auch dies mit ihnen zuwachsender Kraft bewältigt. Wohl kein Dorf der Lausitz hat so intensiv seine Umsiedlung gestalten können wie Horno und hier auch für Nachfolgende die Latte gelegt. Die einst bei LAUBAG/Vattenfall geplanten 120 Millionen Mark Umsiedlungskosten waren um mehr als das Doppelte gewachsen. Die Anwohner mussten nicht wie sonst für ihre Neubauten Kredite aufnehmen, ihre Wünsche wurden berücksichtigt, was sicher half, persönlich Frieden zu machen mit der Entscheidung. Zwischen dem Stadtzentrum von Forst (Lausitz) und Eulo wurde Neu-Horno ebenfalls als Straßenangerdorf und mit den gleichen Straßenbezeichnungen, mit 69 Eigenheimen, um Gemeindezentrum, den Dorfteich und eine Kirche in der Mitte errichtet. Die Turmhaube und der Altar der neuen Kirche waren aus der alten Hornoer Dorfkirche transloziert. Auch die Gräber von Familienangehörigen wurden nach Neu-Horno umgebettet. Die Pfarrerin war zuvor mit den Hornoern über den alten Friedhof geschritten, hatte eine Karte angefertigt, damit auch die Lage der neuen Gräber an die der alten erinnert. Der Kirchhof wurde vor der Abbaggerung umfassend archäologisch untersucht, es wurden 2.200 Gräber vom 13. bis 20. Jahrhundert nachgewiesen, von denen 600 anthropologisch untersucht wurden.23 Aber Landschaft und Patina sind nicht mitzunehmen. »Das geklonte Dorf« lautete denn auch der treffende Titel einer Sendung im Deutschlandfunk über das neue Horno.24 Vor allem fehlt der Berg, an den schon der Ortsname Horno erinnert. Der slawische Name rog steht für Horn und meint damit gerade den fast 100 Meter hohen Berg, in dessen Schutz die Ansiedlung erfolgt war. Rogow gehörte zum Kern des (nieder)sorbischen/wendischen Siedlungsgebietes. Der Ort wurde 1346 in der Meißner Bistumsmatrikel erstmalig erwähnt. Das Dorf verfügte über ein Rittergut. Ackerbau und Viehhaltung waren prägend. 1945 hatte sich die Bevölkerung durch Flüchtlinge vor allem aus Schlesien, dem Wartheland oder Ostpreußen annähernd verdoppelt.25 Gutsgebäude, Dreiseithöfe, Neubauern- und Siedlungshäuser prägten das Angerdorf – Schule, Dorfteich und Kirche mit dem Kirchhof den Dorfkern. Das Ensemble wurde 1993 unter Denkmalschutz gestellt, 2003 jedoch zum Abriss freigegeben. Der Wald am Hornoer Berg wurde 2002 gerodet. Im neuen Horno wurde ein Erinnerungsort geschaffen, wie kein anderes Dorf ihn je erhalten hat: Ein Ausstellungs- und Erinnerungsort für alle 137 Orte, die dem Braunkohlentagebau im Lausitzer Revier weichen mussten. Ihr Herzstück ist eine digitale Ortsdatenbank mit Fotografien.26 Regelmäßig werden Veranstaltungen durchgeführt. Finanziert wurde dieses Archiv verschwundener Orte von der LAUBAG/Vattenfall, eingerichtet im Oktober 2006 im Dachgeschoss des Gemeindezentrums gegenüber der Kirche in Neu-Horno. Träger ist die Stiftung Horno, gemeinsam mit der Stadt Forst (Lausitz). Gegenwärtig ist ein Umzug des Archivs in das Gebäude der ehemaligen Tuchfabrik Noack (Brandenburgisches Textilmuseum in Forst) geplant. Einen weiteren Erinnerungsort beherbergt die Hornoer Kirche selbst. Im Kirchlichen Informations- und Begegnungszentrum Horno eröffnete im Jahr 2006 die Ausstellung »Verlorene Heimat« (Abb. 5).27 Vielleicht ist also Horno der jüngste brandenburgische Erinnerungsort, auf jeden Fall einer, bei dem es um Leben und Tod ging. Außerdem wird sich zeigen, ob Jurij Koch mit seiner Prognose recht hat, die er am 11. Oktober 2006 zur Eröffnung des Archivs verschwundener Orte aussprach: »Wir reißen ab und bauen auf und lassen uns von Monitoren berichten, wies am Abrissplatz war. Zur Erinnerung. Und zur Belehrung. Und in gar nicht allzu langer Zeit: Zur Beschämung. Ich wünsche Horno, der mutigsten europäischen Widerständlergemeinschaft, an deren Seite ich mich befand und befinde, stetigen Zuwachs an Stolz, denn sie hat der Welt nützliche Skrupel und Scham beigebracht. So wird sichs gut leben lassen am neuen Ort. Und mir und allen anderen wünsche ich, dass kein weiteres, wenn auch schönes Erinnerungszentrum dieser Art nötig sein möge.«28

Anmerkungen

1 Das markiert die Zeit, in der auch die sozialistischen Länder die Auswirkungen der ersten Erdölkrise 1973 zu spüren bekamen, weshalb man in der DDR vermehrt auf die eigenen Vorräte an Braunkohle zurückgriff.

2 Gerhard Fugmann (Red.), Horno – Rogow. Eine Chronik, Cottbus 2004; Michael Gromm, Horno. Verkohlte Insel des Widerstands, Berlin 2005; Ders., Horno. Chronologie eines Untergangs, in: Jahrbuch Ökologie 2006, München 2005, S. 180 f.; Jurij Koch, Grubenrandnotizen, Berlin 2020; Friedhelm Schulz, Drei Jahrhunderte Lausitzer Braunkohlenbergbau, Bautzen 2000.

3 Beispielhaft Uwe Meinhold (Red.), Zwischen Zuversicht, Hoffnung und Resignation. Horno – ein sorbisches Dorf kämpft um seinen Bestand. Mahnandachten für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung vom 28. Januar bis zum 1. April 2001. Passionskirche, Berlin-Kreuzberg. Predigten, Vorträge, Beschlüsse der Landessynode der EKiBB, Stellungnahmen der Kirchenleitung der EkiBB, Aufruf der »Künstler für Horno«, Pressemitteilung der Hornoer Kirchengemeinde, Berlin 2001.

4 Etienne François/Hagen Schulze, Einleitung, in: Dies. (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd.  1, München 2001, S. 9–24, hier S. 18.

5 Koch, Grubenrandnotizen (wie Anm.  2), S.  191 [= Anm. zu S. 184 f. mit ausführlichen Angaben].

6 Detlef Karg/Franz Schopper (Hgg.), Horno. Zur Kulturgeschichte eines Niederlausitzer Dorfes, 2  Bde., Wünsdorf 2006; Marion Quitz (Red.), Verlorene Heimat, Der Bergbau und seine Auswirkungen auf Kirchen und Kirchengemeinden der Ober- und Niederlausitz, Cottbus 2007.

7 Nach Gromm, Horno. Chronologie (wie Anm. 2), auch vergleichend die offizielle Verlautbarung »Verordnung über den Braunkohlenplan Tagebau Jänschwalde« des Landes Brandenburg: https:// bravors.brandenburg.de/de/verordnungen-212412 [zuletzt: 10.01.2021].

8 Claus Hecking/Stefan Schultz, Strukturwandel. Deutschland hat nur noch 20.000 Braunkohle-Jobs, in: Der Spiegel (05.07.2017), in: https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/braunkohlewirtschaft-bietet-nur-noch-20-000-arbeitsplaetze-a-1155782.html [zuletzt: 10.01.2021].

9 Eva Börsch-Supan, Horno. Count down für Berg, Wald, Kirche, Haus & Hof?, in: de facto. ÖDP-Magazin für die fünf neuen Bundesländer und Berlin 3 (1997) (Juni), S. 11 f.

10 Vgl. Hans Joachim Veen (Hg.), Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur, Berlin/ München 2000.

11 Es erschienen 148 Ausgaben in losem monatlichem oder zweimonatigem Abstand, ab 1998 noch einige Ausgaben auf Privatinitiative, herausgegeben von einem hierfür gegründeten Verein unter Vorsitz von Helmut Börsch-Supan sowie den Redakteuren Barbara Urban, Lothar Beckmann und Rotraut Lindenberger.

12 Meinhold, Zwischen Zuversicht, Hoffnung und Resignation (wie Anm. 3).

13 Christoph Dieckmann, Ein Dorf fährt in die Grube. Horno hat verloren, in: Die Zeit, Nr.  41, 2003, Wiederabdruck in: Ders., Rückwärts immer. Deutsches Erinnern, Berlin 2005, S. 243–251, hier S. 244.

14 Koch, Grabenrandnotizen (wie Anm.  2), S.  144 f. [zu 2001].

15 Elke Windisch, Schwanengesang für Dubrau, in: Freitag, Nr. 44 (25. Oktober 1991), S. 11.

16 Vgl. Armin Fuhrer, Noch steht die Kirche im Dorf, in: Die Welt [Tageszeitung] vom 15. Oktober 1996.

17 Koch, Grabenrandnotizen (wie Anm. 2), S. 123ff.

18 Ebd., S. 58.

19 Börsch-Supan, Horno (wie Anm. 9), S. 12.

20 Simone Wendler, Die Ministerin schenkt den Hornoern reinen Wein ein. Regine Hildebrandt gibt dem Dorf keine Chancen, in: Der Tagesspiegel Nr. 14672 (10. September 1993).

21 Koch, Grabenrandnotizen (wie Anm.  2), S.  121 f. Auch wenn überregionale Zeitungen irrig berichteten, dass Gerhard Schröder in Horno gewesen sein soll, z.B. Hamburger Morgenpost (1. September 2000).

22 Barbara Bollwahn de Paez Casanova, Der bekennende Sorbe, in: taz vom 26.9.2001, S. 19; Koch, Grabenrandnotizen (wie Anm. 2), S. 137 f.

23 Eberhard Böhnisch (Red.), Was bewahren die Forscher von Horno? Ein Dorf im Niederlausitzer Braunkohlenrevier wird dokumentiert, Wünsdorf 2005; Bettina Jungklaus, Wie lebten sie? Wie starben sie? Anthropologische Untersuchungen an Niederlausitzer Skeletten liefern Antworten, in: Archäologie in Berlin und Brandenburg 2009, S. 114 – 117.

24 Rundfunksendung vom 18.07.2006, vgl. https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-geklonte-dorf.1001.de.html?dram:article_id=156081 [zuletzt: 18.08.2021].

25 Vgl. Peter Bahl, Belastung und Bereicherung. Vertriebenenintegration in Brandenburg nach 1945, Berlin 2020, S. 529.

26 Datenbank »Archiv verschwundener Orte / Archiw zgubjonych jsow« vgl. https://www.archiv-verschwundene-orte.de/de/verschwundene_orte/uebersicht_der_orte/70469 [zuletzt: 11.01.2021].

27 Quitz, Verlorene Heimat (wie Anm. 6).

28 Koch, Grubenrandnotizen (wie Anm. 2), S. 176.

Abbildungsnachweis

Abb. 1, 4 Dagmar Wellenbrink.

Abb. 2 Ruth Berendt.

Abb. 3 Privatarchiv (Foto: unbekannt).

Abb. 5 Archiv verschwundener Orte.

 

 

Der Beitrag erschien in:

Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 315-327.


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