Rochow & Reckahn
Frank Tosch
Am 26. Februar 1992 wurde im kleinen Dorf Reckahn, sechs Kilometer südlich von Brandenburg/Havel, das Schulmuseum Reckahn eröffnet; neun Jahre später, am 3. August 2001, das Rochow-Museum im einstigen Herrenhaus derer von Rochow eingeweiht. Dieses Museum entstand als eines von sechs dezentralen Ausstellungsprojekten im sogenannten »Preußenjahr«1 der Länder Brandenburg und Berlin. Ein völlig übermüdeter, weil Tage und Nächte zuvor am Ausstellungsaufbau durcharbeitender Autor dieses Beitrages und ebenso sein damaliger Chef Hanno Schmitt vertauschten ihre ›Blaumänner‹ in Anzüge, um gemeinsam mit ca. 400 Gästen die feierliche Eröffnung der Dauerausstellung »Vernunft fürs Volk – Friedrich Eberhard von Rochow im Aufbruch Preußens« zu begehen. Ein Jahr härtester Arbeit an der Konzeption des Museums, der Gewinnung sämtlicher Ausstellungsobjekte und der Herstellung eines Ausstellungskatalogs2 lagen hinter uns. Vier Jahre später, 2005, kamen zwei weitere Elemente hinzu: Im Keller des Rochowschen Herrenhauses – nicht nur von den Reckahner Bürgern und auf dem Kulturwegweiser eines Autobahnschildes auf der A 2 nahe Brandenburg/Havel ›Schloss‹ genannt – wurde eine Museumspädagogische Werkstatt »Rochow-Grotte«3 mit Papierschöpfen und Tonarbeit eröffnet. Im September 2005 kam sodann die Sanierung eines wesentlichen Teils des Gutsparkes4 mit einem kulturellen Informationssystem zum Abschluss. Spätestens jetzt wurde vom ›kultur- und bildungshistorischen Reckahner Ensemble‹ gesprochen: Schloss Reckahn (1729/30) (heute Rochow-Museum), Rochows original erbautes Schulhaus (1773) (heute Schulmuseum Reckahn), ein gestalteter Gutspark mit anliegender imposanter Barockkirche (1739/41). Mit Blick auf das Ensemble werden auch der Neue Friedhof mit den Gräbern von Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805) und seiner Frau Christiane Louise (1734–1808), das Grab des reformfreudigen Lehrers Heinrich Julius Bruns (1746 –1794)5 auf dem Kirchfriedhof – und keine hundert Meter von dort entfernt –, das Bruns-Denkmal, das Rochow für seinen Lehrer, nach dessen Tod 1794, hatte errichten lassen, genannt. Schließlich wurde das Ensemble um einen zentralen Baustein vervollständigt, als seit September 2020 ein Jugend-, Kultur-, Gemeinde- und Konferenzzentrum – mit 23 Doppelzimmern im sanierten Renaissancebau neben dem Schloss Reckahn (im alten Rochowschen Herrenhaus) – eingeweiht wurde.
Allein diese Aufzählung von Eröffnungen und Einweihungen (nicht genannt die regelmäßigen Sonderausstellungen im Rochow-Museum) macht stichwortartig die Genese des kulturellen Gedenkortes Reckahn sichtbar und lässt zumindest aufscheinen, dass es sich hier heute um einen Erinnerungsort von nationaler Bedeutung handelt. Die genannten Zäsuren legen ein Zeugnis darüber ab, wie in den letzten dreißig Jahren Visionen für einen Erinnerungsort Schritt für Schritt in eine konkrete Gestaltungsperspektive übersetzt wurden.
Und dennoch sind Rochow und die genannte Reckahner Schule seit dem 18. Jahrhundert bis zum heutigen Tag das überragende Symbol für einen aufklärerisch-gestaltenden Impuls, vor allem für eine neuzeitliche Schule und für einen reformorientierten Unterricht. Wie sind sie dies geworden? Im Folgenden werden zentrale Etappen des Erinnerns6 in ausgewählten Deutungen allenfalls kursorisch vorgestellt.
Nachdem Friedrich Eberhard von Rochow (Abb. 1) die Gutsherrschaft 1760 von seinem Vater übernommen hatte, erfolgreich erste ökonomische Initiativen zur Rationalisierung der Landwirtschaft und zur sozialen Hebung des Bauernstandes verwirklichen konnte, wurde ihm mehr und mehr der Zusammenhang zur Bildung seiner Landleute bewusst: »Ich denke doch nicht, […] daß man den Verstand eines Bauernkindes und seine Seele für Dinge einer andern Gattung hält als den Verstand und die Seelen der Kinder höherer Stände.«7 Folgerichtig rückte die Reform des Elementarschulwesens in seiner Gutsherrschaft – drei Jahrzehnte vor den preußischen Reformen – in den Mittelpunkt. Rochow ließ auf eigene Kosten für 900 Taler 1773 ein steinernes Schulhaus mit Lehrerwohnung errichten; den Klassenraum kennzeichneten drei große Fenster und Sonnenrollos in den Gartenbereich (Abb. 2). Hier wird Geschichte am realen, am authentischen Ort über zweieinhalb Jahrhunderte lokalisierbar. Die schriftlichen Überlieferungen zeigen, dass ernst gemacht wurde mit den Symbolen der Aufklärung – also Licht und Luft –, die zugleich auch die neue Pädagogik versinnbildlichen. Rochows zweiklassige Landschule avancierte schnell zum ›Muster aller Landschulen‹ und beeinflusste die preußische Volksschulentwicklung bis weit in das 19. Jahrhundert hinein. Dass der Gutsherr von Rochow ein Lesebuch für Bauernkinder schrieb, war selbst in aufgeklärten Kreisen weithin singulär. Rochows »Kinderfreund« gilt in der historischen Bildungsforschung als das älteste deutsche Volksschullesebuch. Mit den 79 Lesestücken im ersten Teil 17768 und den 107 Lesestücken im zweiten Teil 17799 – für ältere SchülerInnen gedacht –, unternahm Rochow den Versuch, »die große Lücke zwischen Fibel und Bibel auszufüllen«.10 Alle seit Mitte des 18. Jahrhunderts in der Volksaufklärung diskutierten Reformfragen waren berücksichtigt: Ökonomische, naturkundliche sowie moralische Belehrung wurden mit unterhaltsamen literarischen Mitteln verbunden. Der »Kinderfreund« dokumentiert ein Lob des Lernens und die Kraft des Faktors Bildung. Nahezu ein Jahrhundert – bis 1870 – wurde der Rochowsche Bestseller in ca. einer Million Exemplare in ganz Europa gedruckt und hatte nachhaltig den preußischen Volksschulunterricht und ebenso die Gattung Schulbuch geprägt. Die Lesestücke thematisieren Nützlichkeit, Sittlichkeit und Glückseligkeit, sowohl für die Landbevölkerung, als auch für die Wohlfahrt des Staates – diese Doppelperspektive des »Kinderfreundes« macht ihn bis heute aktuell. Unter den vielen zeitgenössischen Rezeptionen sei hier lediglich eine genannt: Der Herausgeber des Magazins »Der deutsche Schulfreund« Heinrich Gottlieb Zerrenner (1750–1811) stellte im Rezensionsteil im Jahre 1795 eine Publikation vor mit dem Titel: »Bemerkungen für Landschullehrer und Freunde derselben, von Johannes Buehl, Prediger zu Hemishofen bei Stein am Rhein, mit dem Motto: Lasset die Kindlein zu mir kommen. Nürnberg im Verlag der Rawschen Buchhandlung 1792, S. 126.«11 Zerrenner lobte die Wertschätzung des »Kinderfreundes« durch Buehl: »Rochows Kinderfreund ist ein unschätzbares Buch für die Landschulen, und je mehr ich es kennen lerne, desto mehr lieb‹ ich es. Wenn man reines thätiges Christenthum pflanzen, wenn man verständige und glückliche Landleute bilden will, so brauche man Rochows Kinderfreund in den Schulen.«12
Man meint hier zugleich etwas über Lehrer Bruns zu lesen, wenngleich in der Reckahner Schule jedes Kind einen »Kinderfreund« besaß. In Anton Friedrich Büschings (1724–1793) »Beschreibung seiner Reise von Berlin über Potsdam nach Reckahn« (1775) erfahren wir genauer, worin der Paradigmenwechsel des neuen Lernens im Umgang mit Kindern besteht, gibt dieser doch freimütig an: »[I]ch selbst habe nicht wenigen in dieser Absicht nach Rekahn zu gehen gerathen«, um »die hiesige vortrefliche Lehr-Methode bekannt zu machen.«13 Büsching wendet sich gegen die »unvernünftigste catechetische Lehrart«, bei der »man entweder den Kindern die Hälfte des Worts welches sie antworten sollen, vorspricht, oder nur ja! und nein! von ihnen verlanget.«14 Was man in Reckahn lernen kann, und das liest sich heute wie ein moderner Kompetenzkatalog schulischer Bildung sowie personaler Eigenschaften des Lehrers, ist, »durch wohlbedachte Fragen die Aufmerksamkeit der Kinder zu erregen und zu unterhalten, das Nachdenken zu veranlassen und zu befördern, Begriffe zu erwecken und aufzuklären, eben denselben Richtigkeit und Leben zu geben, […]. Herr Cantor Bruhns ist ein solcher Lehrer, der es unter der Anleitung des Herrn Domherrn in der wahren Lehrkunst schon sehr weit gebracht hat.«15
Auch Zerrenner berichtet über Lehrer Bruns: »Seine hohen Wendungen, der Gang der Unterredung, die Manier die Kinder auszufragen, und die richtigen Ideen in ihren Kinderseelen zu veranlassen, vorzubereiten, und gleichsam herauszuspinnen; dann seine Uebergänge und die ihm ganz eigne Art und Weise alles, auch das Geringfügigste, sogleich praktisch fürs Leben brauchbar zu machen, und in eigne gute Vorsätze und Entschließungen zu verwandeln, ist in der That einzig, und beinahe unnachahmlich!”16
Schon bis zum Tode von Bruns 1794 hatten knapp 1.000 BesucherInnen die Rochowsche Schule hospitiert; Reckahn war ein Pilgerort, ein Knoten im personalen Netzwerk in Sachen der neuen Lehrart geworden – dieser Personenkreis hielt Rochow und Bruns überregional im Gespräch und begründete mit seinen Wahrnehmungen, mündlichen und schriftlichen Berichten und Deutungen maßgeblich den Erinnerungsort Reckahn.
Unter den Pädagogen des 19. Jahrhunderts war zweifellos Friedrich Adolf Wilhelm Diesterweg (1790–1866) der einflussreichste Propagandist der Rochowschen Ideen. In seiner Eröffnungsrede als Direktor des Lehrerseminars in Moers am 3. Juli 1820 hielt Diesterweg – fünfzehn Jahre nach Rochows Tod – die Signalwirkung des Rochowschen Schulprojekts lebendig, wenn er resümiert: »Dort in Reckahn [Hervorhebung i. Orig.] zündete jener edle Domherr ein Licht an, das bald viele tausend Männer und Schulen in allen Gebieten von Deutschland durchleuchtete und an dem fromm-liebenden Wirken und der erheiternden Nähe dieses Menschenfreundes erstarkte der Mut braver Lehrer, welche in der Schule des wackeren Bruns verwirklicht sahen, was jener gedacht hatte.«17
Nach 1870 ging die hohe Zeit des Rochowschen Lesebuches »Der Kinderfreund« auch im Volksschulunterricht des ländlichen Raums zu Ende. So verwundert es nicht, wenn der Rochow-Kenner, der Berliner Stadtschulinspektor Fritz Jonas (1845–1920), im Vorwort zu der von ihm herausgegebenen, zweiten, zugleich vermehrten Ausgabe der Rochowschen »Litterarischen Correspondenz« 1884 – anlässlich des 150. Geburtstages von Rochow – nun sogar an den »großen, nicht genug gewürdigten Pädagogen der Mark Brandenburg« erinnerte. »Zwar lebt sein Name in den Werken über die Geschichte der Pädagogik fort, aber in weiteren Kreisen ist sein Andenken fast erloschen, und seine Schriften werden selbst von den Lehrern selten noch gelesen, zumal auch die alten Ausgaben derselben meist vergriffen sind.«18 In seinem Vorwort erhebt Jonas fordernd die Stimme nach einer Rochow-Gesamtausgabe, »wenn nicht aller seiner Schriften, so doch zum mindesten der pädagogischen«, denn das »ist eine Ehrenpflicht der deutschen Lehrerschaft.«19 Aber auch dieses Vorhaben wurde dann von Jonas gemeinsam mit dem Gemeindeschullehrer Friedrich Wienecke in einer vierbändigen Ausgabe von »Rochows sämtlichen pädagogischen Schriften«20 erst im Zeitraum 1907 bis 1910 realisiert.
Noch 1890 wird Rochow im 13. Band von »Meyers Konversations-Lexikon« zum »Vater der neuern preußischen Volksschule«21 erklärt; diese Vereinnahmung erscheint – so Heinz-Elmar Tenorth – deshalb unzutreffend, weil damit nicht die Differenz sichtbar gemacht wird, dass Rochow »nicht für die Volksschule als Institution, sondern für ›Volksbildung‹ als Aufgabe«, also für die Notwendigkeit einer allgemeinen Bildung und der damit verbundenen Ausprägung von »kulturellen Basisqualifikationen«22 für jeden Menschen steht. Auch der nachträgliche, durchaus pädagogisch intendierte Versuch, Rochow als »Pestalozzi der Mark«23 zu stilisieren, reibt sich allein an der Tatsache, dass der jüngere Schweizer Volkspädagoge (1746 –1827) erst 1780 zu publizieren begann und 1800 in Burgdorf seine Erziehungseinrichtung begründete, er also durchaus bereits auf Rochows programmatische Schriften und auf Erfahrungen der Reckahner Modellschule zurückgreifen konnte.24 Dagegen erscheint plausibel, Rochow als »Mitbegründer und geistige[n] Vater der Lehrerbildungsstätte in Halberstadt«25 zu beschreiben, hatte sich doch Rochow, der seit 1762 auch Domherr zu Halberstadt war, um das dortige, im Juli 1778 eröffnete Lehrerseminar sowohl inhaltlich-konzeptionell, als auch bei der Mittelakquise verdient gemacht.
Im Jahre 1905, zum hundertsten Todestag von Rochow, versammelten sich Lehrer der Mark zu einer Gedächtnisfeier, und so erinnerte Friedrich Wienecke: »Der Name Heinrich Julius Bruns ist mit dem des Pädagogen Friedrich Eberhard von Rochow eng verbunden. Er war es, der die Ideen und Grundsätze des Domherrn praktisch gestaltete und ihre Brauchbarkeit und ihren Erfolg den Besuchern der Reckahnschen Schule und der pädagogischen Welt bewies. Sein Leben und Streben, sein Wirken und Schaffen gehört der Rochow-Pädagogik an, und so war denn der hundertjährige Gedenktag des Meisters gleichzeitig auch sein Gedenktag und die am 16. Mai v. J. [1905] in Reckahn veranstaltete Rochowfeier eine Brunsfeier.«26
Nachzutragen bleibt, dass bis 1946 das Rochowsche Schulhaus funktional ununterbrochen als Schule, nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1991 vor allem als Kinderkrippe genutzt wurde. Die Schule zog nach dem Zweiten Weltkrieg in das Rochowsche Herrenhaus und wurde dort zu einer zehnklassigen polytechnischen Oberschule ausgebaut.
Erst im Zuge einer neu akzentuierten Erbe-Rezeption in der DDR fand 1984 anlässlich des 250. Geburtstages von Rochow eine Festveranstaltung des damaligen Rates des Bezirkes Potsdam sowie ein wissenschaftliches Kolloquium im Historischen Rathaus der Stadt Brandenburg/Havel statt. Die maßgeblich vom Wissenschaftsbereich Geschichte der Erziehung/Vergleichende Pädagogik der damaligen Pädagogischen Hochschule Potsdam getragene Tagung hatte auch einen Besuch von Schule und Schloss Reckahn auf dem Veranstaltungsprogramm. Am Giebel des alten Rochowschen Schulhauses wurde eine noch heute lesbare Gedenktafel angebracht: »Dieses Haus liess der Schulreformer F. E. von Rochow (1734–1805) als Dorfschule errichten. Hier wurden seine Ideen durch den Lehrer H. J. Bruns verwirklicht.«
Zu diesem Jubiläum wurde auch eine erste Ausstellung zu Rochows Leben und Werk auf Initiative des Lehrers Otto Günther Beckmann im Rochowschen Schloss eröffnet, die allerdings nicht von Dauer war. Jener Lehrer aber war es acht Jahre später, mit dessen Namen die Initiative zur Errichtung eines Schulmuseums im Rochowschen Schulhaus im Zuge der gesellschaftlichen Wende verbunden war und so ab 1992 ein dauerhaftes museales Erinnern begann. Auch für den Autor ist mit diesem ersten Reckahn-Besuch 1984 ein besonderer Erinnerungsort verbunden, war doch die Einladung zur Tagungsteilnahme von Prof. Dr. Wolfgang Rocksch (1930–2013), meinem späteren Doktorvater, für einen damaligen Lehramtsstudierenden die überhaupt erste Kontaktnahme mit Vertretern historischer Bildungsforschung. 33 Jahre später, im März 2017, schloss sich durchaus ein individueller Lebenskreis, als der Autor für die Idee und Konzeption der neuen Dauerausstellung27 im Schulmuseum Reckahn gemeinsam mit Silke Siebrecht-Grabig verantwortlich zeichnete.
Anlässlich der Zehn-Jahrfeier des Rochow-Museums 2011 fragte der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth, »welches Thema wir eigentlich erinnern, wenn wir an Rochow und Reckahn denken« und kommt zu dem Ergebnis, »dass dieses Thema zumindest drei Dimensionen hat, […] um Rochows Wirkungskreis zu charakterisieren: pädagogisch, bürgerschaftlich-philanthropisch und politisch«.28
Genau in dieser Perspektive waren und sind die Ausstellungskonzeptionen im Rochow-Museum und im Schulmuseum Reckahn angelegt; im Folgenden wird sehr knapp danach gefragt, wie hier das Erinnern verortet ist.
Im Rochow-Museum erleben die BesucherInnen eine Zeitreise ins 18. Jahrhundert und erfahren eine Annäherung an den Reformer und sein aufklärerisches, ökonomisches, schulreformerisches und schriftstellerisches Werk. Jede Ausstellung bietet seitens ihrer Macher eine Sicht, eine Deutung, damit zugleich auch eine spezifische Interpretation auf den kulturhistorischen Gegenstand. Die barocken Sichtachsen des Herrenhauses sind zugleich museale Achsen zu Rochow und zu den mit der Aufklärung verbundene Personen und Themen. Auch wenn mit jedem Raum durchaus in didaktischer Absicht eine Grundaussage verbunden ist, soll dennoch keine ›Lehrpfadperspektive‹ gelegt werden; aber die acht Räume stehen für acht Themen, die erst in der Gesamtheit ein denkbares Bild zu Leben und Werk von Rochow erzeugen: das aufgeklärte Gespräch im Gartensaal, das an die Grundfragen von Aufklärung und religionsübergreifender Toleranz heranführt, dann die Räume, in denen an Rochows ökonomischen Leistungen in der Gutsherrschaft und an sein Wirken als erster Vorsitzender der Märkisch-Ökonomischen Gesellschaft zu Potsdam29 erinnert wird. Die hier inszenierten ökonomischen Initiativen zeigen, dass erst eine empirisch abgesicherte Datenlage es möglich macht, neues Wissen auch zu popularisieren, wie es Rochow zum Beispiel in seinen »Märkischen Bauerngesprächen«, die in der Ausstellung in Bild und Ton ein Nachdenken über die Stilmittel der Aufklärung erzeugen, so modellhaft demonstriert hat. Mit dem Nachbau des philanthropischen Denklehrzimmers auf der Basis eines Stiches und der Erläuterungen des Lehrers Christian Heinrich Wolke (1741–1825) vom Dessauer Philanthropin wird der pädagogische Kosmos des 18. Jahrhunderts aufgemacht, wenn unter anderem die philanthropischen Edukationshandlungen am Beispiel einer Meritentafel zur Ansprache gebracht werden. Die zum Sehen, zum Ausprobieren angelegten Stationen verweisen auf eine handlungsorientierte Pädagogik der Philanthropen, weisen aus, dass mit Rochow zum ersten Mal die pädagogischen Maxime eines Johann Bernhard Basedow (1724–1790) in Dessau für Kinder ›gesitteter Stände‹ auf eine ländliche Schule für Bauernkinder erfolgreich übertragen wurden.
Schließlich werden die BesucherInnen mit den Freundschaftsnetzen der Rochows bekannt gemacht und die über 1.100 BesucherInnen statistisch analysiert, die von 1773 bis zum Tode Rochows 1805 – also im ›Kutschenzeitalter‹ – nach Reckahn kamen, die neue Lehrart hospitierten und im Reisegepäck, um es mit einer Schrift Rochows deutlicher zu machen, »Stoff zum Denken«30 nach Hause trugen.
Schon ein Jahr nach Eröffnung des Rochow-Museums wurden die Reckahner Museen als »Kultureller Gedächtnisort mit besonderer nationaler Bedeutung« in das »Blaubuch« 2002/03 der Bundesregierung eingetragen. Das von Paul Raabe (1927–2013) erarbeitete »Blaubuch« gibt hierfür – wiederum mit Blick auf die kulturhistorische Gesamtanlage – folgende Begründung: »Bildungsgeschichtliche Bedeutung, Einmaligkeit des von Rochow erbauten Schulhauses, Geschlossenheit des barocken Ensembles, große regionale und überregionale Resonanz des Projektes sowie seine musealen und ausstellungsdidaktischen Innovationen geben berechtigte Hoffnungen, das Projekt in der Synthese von Ausstellung, Bildung und Forschung als kulturelle Einrichtung in ländlicher Region dauerhaft zu etablieren.«31
Dieser Ansatz wird auch im Schulmuseum Reckahn verfolgt, das zur 25-Jahrfeier 2017 eine neue Dauerausstellung erhalten hat. Auch hier ist das Historische Klassenzimmer als zentraler musealer Ort auf die Funktionen einer Schule (mit Historischen Schulstunden nach Rochowscher Lehrart mit dem »Kinderfreund« beziehungsweise eine »Kaiserstunde« gerichtet. In der ehemaligen Lehrerwohnung wird nach der Bedeutung der Kategorie Landgnadenschulen gefragt und Leben und Werk von Bruns als »Meister des sokratischen Gespräches« – auch mit einer experimentellen Situation bei der Behandlung des Lesestücks »Der Magnet« im »Kinderfreund« – in den Mittelpunkt gerückt. Es ist vor allem das Verdienst von Bruns, dass die Schule schon elf Jahre nach ihrer Eröffnung 1784 als »wahrscheinlich die beste Landschule in der Welt«32 bezeichnet wurde. Überhaupt ist es hier das Anliegen, die frühen personalen Netzwerke – Patron Rochow und seine Ehefrau, Lehrer Bruns, Pfarrer Stephan Rudolph (1729–1803) – zu identifizieren, mehr aber auch ausstellungsdidaktisch die Mechanismen dieser Netzwerke als Motoren der Moderne sichtbar zu machen. Schließlich wird gezeigt, dass Reckahn und Krahne am Beginn des 19. Jahrhunderts sogar Orte der Lehrerbildung waren; hier werden jene Pädagogen vorgestellt, die die Rochowsche Pädagogik und die unterrichtlichen Stilmittel von Bruns erfolgreich fortgeführt haben. Schließlich wird transparent gemacht, wie ausgehend vom Rochowschen Naturgeschichtsunterricht, wie von den Realien, wie von anschauender Erkenntnis des 18. Jahrhunderts sich die Fächer Naturkunde, Heimatkunde, Sachkunde, wie sich der spätere Kanon der modernen Naturwissenschaften ausdifferenziert hatte. Dies erfolgt nicht abstrakt, sondern – einem Schulmuseum gemäß –, an den Lehr- und Lernmitteln, wobei Anfassen einen aktiven Lernprozess, also Begreifen im elementaren Sinne, unterstützen soll. Auch im Obergeschoss wurden die zwei Räume erstmals stärker mit schulischen Funktionen ›belebt‹: zum einen als »Projektwerkstatt regionale Schulgeschichte« als Identifikationsfigur für SchülerInnen; zum anderen als Archiv, Bibliothek und Forschungslabor für LehrerInnen zur Auseinandersetzung mit Kernfragen ihrer Profession.
Beide Ausstellungen versuchen mit sparsamen Raumtexttafeln die BesucherInnen zum Sehen, zum Hören, zum Handeln einzuladen, wollen sie jedoch nicht mit Objekten und Inszenierungen ›überschütten‹, sondern am konkreten Objekt tatsächlich ein Nachdenken, Dialoge und Gespräche anregen und erst hierauf eine individuelle Lesesituation und weiterführendes Selbststudium anbieten. IndividualbesucherInnen werden dabei auch durch einen Audio-Guide in deutscher und englischer Sprache wirksam unterstützt.
Mit dem Kulturellen Informationssystem im Park werden die medialen Inszenierungen im Innenraum des Rochow-Museums in den Außenraum des Gutsparkes fortgeschrieben: So wird zum Beispiel das aufgeklärte Gespräch im Gartensaal mit einer großen Halbrundbank für Kommunikation und künstlerische Aktivität in den Park hinein übersetzt; werden die Netze der Rochows mit einer Freundschaftsbank als Grüne Grotte für vertraute, intime Gespräche in eine landschaftliche Parksituation geholt (in den Spiegelsbergen in Halberstadt ist eine »Rochow-Grotte« nach dem Domherrn benannt), oder aber werden die ökonomischen Initiativen Rochows unter anderem im Obstanbau und Seidenbau mit einer Tischgruppe inmitten von Obstgehölzen und eines Maulbeerbaumes ›lebendig‹ gemacht. An der Brücke über die Plane im Gutspark steht eine Infotafel im Zentrum eines ›Erinnerungsdreiecks‹ – zunächst die Sicht auf das Grab von Heinrich Julius Bruns unmittelbar an der Mauer jener Kirche, in der der Lehrer die Orgel spielte; daneben sein einstiger Lebens- und Wirkungsort, die Schule, und schließlich, den Blick wieder in den Park gerichtet, auf das von Rochow für den Lehrer Bruns gestiftete Denkmal mit der so einzigartigen wertschätzenden Aufschrift »Er war ein Lehrer«.
Schließlich darf der Rochow-Wanderweg nicht vergessen werden, der die historischen Erinnerungsorte nicht nur im Gutspark, sondern in und um Reckahn auf einer wahlweise bis zu neun Kilometer langen Route verbindet.
Seit dem 11. September 2020 hat die Rochow-Akademie ihren Sitz am Schloss Reckahn gefunden. In einem in den Jahren 2016 bis 2020 sanierten Renaissancebau ist heute ein Tagungszentrum untergebracht, das sich in Trägerschaft der 2002 gegründeten Stiftung Der Kinderfreund – Victoria D. von Rochow-Litscher befindet.
Auch wenn bis heute vor allem runde Jahrestage den Anstoß für besondere Aktivitäten der Erinnerungspflege mit Rochow und Reckahn geben, bestätigen die bislang 200.000 interessierten BesucherInnen immer wieder eine einfache Erkenntnis, dass sie es sind, die sich mit unterschiedlichen Motiven und Erfahrungskontexten auf Reckahn und Rochow individuell und kollektiv einlassen. Systematischer gedacht wird eine Erinnerungskultur als lokalstandörtliche Dimension mit beiden Museen, mit dem Gutspark, der Barockkirche und den Friedhöfen am je authentischen Ort, als personale Dimension eines Netzwerkes von zeitgenössischen Akteuren, als zeitlich-räumliche Dimension im Kontext der philanthropischen Erziehungsbewegung mit europaweiter Ausstrahlung sowie als museale beziehungsweise museumspädagogisch-inszenatorische Dimension sowohl thematisch-sachbezogen, als auch hierauf aufklärend-bildend entfaltet.
Insbesondere bei Führungen im Reckahner kulturhistorischen Ensemble wird immer wieder deutlich, wie sehr Wahrnehmungs- und Deutungsmuster »sich aus einem Zusammenspiel des persönlichen Gedächtnisses und der gemeinsamen kollektiven Erinnerung«33 ergeben; kurzum, es gibt gute Gründe, wenn heute ein engagierter Kreis von Akteuren das spezifische Spannungsfeld produktiven Erinnerns in so vielfältiger Weise in lebendigem Bewusstsein hält.
Anmerkungen
1 Auf der ersten gemeinsamen Landesausstellung »Preußen 2001 – Facetten einer Epoche« stellten Berlin und Brandenburg ausgewählte Entwicklungen aus ihrer preußischen Geschichte vor. Anlass war das 300. Jubiläum der Krönung des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. zum ersten König in Preußen.
2 Vgl. Hanno Schmitt/Frank Tosch (Hgg.), Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow im Aufbruch Preußens, Berlin 2001.
3 Vgl. Frank Tosch, »Wissen aus dem Vollen schöpfen«. Zur Idee und Konzeption einer Museumspädagogischen Werkstatt im Rochow-Museum Reckahn, in: Zeitschrift für Museum und Bildung 73 (2011), S. 13–33.
4 Vgl. Ders., »Der Anblick eines schönen Gartens« und die »freye Natur [… als] beste Lehrmeisterin«. Der Reckahner Gutspark zwischen Nützlichem und Schönem. Museal-kulturelles Gestaltungskonzept eines wiedererwachten historischen Ensembles, in: Zeitschrift für Museum und Bildung 76/77 (2014), S. 36 – 64.
5 Vgl. Ders., Heinrich Julius Bruns (1746 –1794). Schüler – Lehrer – Lehrerbildner, Bremen 2015.
6 Vgl. ausführlich Hanno Schmitt, Friedrich Eberhard von Rochow (1734 –1805). Spuren und Deutungen in zwei Jahrhunderten, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 11 (2005), S. 351–381.
7 Friedrich Eberhard von Rochow, Versuch eines Schulbuches für Kinder der Landleute oder zum Gebrauch in Dorfschulen (1772), in: Fritz Jonas/ Friedrich Wienecke (Hgg.), Friedrich Eberhard von Rochows sämtliche pädagogische Schriften, Bd. 1, Berlin 1907, S. 1–87, hier S. 4.
8 Vgl. Friedrich Eberhard von Rochow, Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen. Faksimiledruck der Ausgabe Brandenburg und Leipzig 1776. Mit einem Nachwort von Hanno Schmitt, Berlin 2003.
9 Vgl. Friedrich Eberhard von Rochow, Der Kinderfreund. Zweyter Theil. Faksimiledruck der Ausgabe Brandenburg und Leipzig 1779. Mit einem Nachwort von Frank Tosch, Berlin 2006.
10 Rochow, Der Kinderfreund (wie Anm. 8), S. 4.
11 Heinrich Gottlieb Zerrenner [Rezension Nr. 2], in: Ders. (Hg.), Der deutsche Schulfreund ein nützliches Hand- und Lesebuch für Bürger- und Landschulen, Bd. 11, Erfurt 1795, S. 128–143, hier S. 128.
12 Johannes Buehl, zit. nach ebd., S. 136.
13 Anton Friedrich Büsching, Beschreibung seiner Reise von Berlin über Potsdam nach Rekahn unweit Brandenburg, welche er vom dritten bis achten Junius 1775 gethan hat, 2., stark vermehrte Ausgabe, Frankfurt am Main/Leipzig 1780, S. 320.
14 Ebd.
15 Ebd., S. 320 f.
16 Heinrich Gottlieb Zerrenner, Noch etwas über Rekan und die Schulanstalten des Herrn Domherrn von Rochow, in: Journal für Prediger 20 (1788), S. 1– 47, hier S. 16.
17 Friedrich Adolf Wilhelm Diesterweg, Rede zur Eröffnung des Seminars in Moers (1820), in: Ders., Sämtliche Werke, bearb. v. Ruth Hohendorf, Bd. 2, Abt. 1, Berlin 1957, S. 419– 424, hier S. 422.
18 Fritz Jonas (Hg.), Litterarische Correspondenz des Pädagogen Friedrich Eberhard von Rochow mit seinen Freunden [Vorbericht zur 2. Aufl.], Berlin 1885, S. VI–VII, hier S. VI.
19 Ebd., S. VII.
20 Vgl. Fritz Jonas/Friedrich Wienecke (Hgg.), Friedrich Eberhard von Rochows sämtliche pädagogische Schriften, 4 Bde., Berlin 1907/1910.
21 [Art.] Rochow, Friedrich Eberhard von, in: Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens, 4. Aufl. 13 (1890), S. 875 –876, hier S. 876.
22 Heinz-Elmar Tenorth, Rochow redivivus. Rede zur Feier des zehnjährigen Jubiläums der Reckahner Museen, 20.08.2011, Reckahn 2011, S. 5 f.
23 Hermann Jahnke, Vorwort, in: Ders., Eberhard von Rochow oder Die Schule von Reckahn, Berlin 1888, S. VII-IX, hier S. IX, vgl. ferner das Schulprogramm der Grundschule Golzow, in: https://www.rochow-grundschule-golzow.de/seite/585592/schulprogramm.html [zuletzt: 17.09.2020].
24 Vgl. Preussen. Chronik eines deutschen Staates (rbb), in: https://www.preussenchronik.de [zuletzt: 17.09.2020].
25 Johannes Schenk, Friedrich Eberhard von Rochow über den Lehrer und die Lehrerbildung, in: Wolfgang Rocksch/Johannes Schenk (Red.), Friedrich Eberhard von Rochow (1734 –1805). Zum fortschrittlichen pädagogischen Erbe des märkischen Schulreformators, Potsdam 1984, S. 16 –22, hier S. 20.
26 Friedrich Wienecke, Heinrich Julius Bruns, in: Schulblatt für die Provinz Brandenburg 71 (1906)/ IX–X, S. 401– 416, hier S. 401.
27 Vgl. Frank Tosch, Zur Konzeption und Gestaltung der neuen Dauerausstellung im Schulmuseum Reckahn 2017, in: Ders. (Hg.), Heinrich Julius Bruns (1746 –1794). Interpretationen – Quellen, Berlin 2019, S. 179–196.
28 Tenorth, Rochow redivivus (wie Anm. 22), S. 5.
29 Vgl. Frank Tosch, Der Aufklärertypus Friedrich Eberhard von Rochow (1734 –1805) und die Märkische Ökonomische Gesellschaft zu Potsdam, in: Marcus Popplow (Hg.), Landschaften agrarisch-ökonomischen Wissens. Strategien innovativer Ressourcennutzung in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts, Münster/New York/München/ Berlin 2010, S. 155 –173.
30 Vgl. Friedrich Eberhard von Rochow, Stoff zum Denken über wichtige Angelegenheiten des Menschen. Braunschweig 1775.
31 Paul Raabe (Hg.), Blaubuch 2002/2003. Kulturelle Leuchttürme in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Mit einem Anhang Kulturelle Gedächtnisorte, Berlin 2002, S. 317 f.
32 Die Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 2 (1785), S. 118. Anm. zum Ortsnamen »Gettin«.
33 Etienne François/Hagen Schulze, Einleitung, in: Dies. (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl, München 2005, S. 7–12, hier S. 7.
Abbildungsnachweis
Abb. 1 Familie Freiherr von der Recke, Rochow-Museum Reckahn.
Abb. 2 Autor.
Der Beitrag erschien in:
Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 197-207.