Sängerstadt Finsterwalde

Rainer Ernst

»… und in Finsterwalde erfand man den Gesang«, heißt es selbstbewusst in einem Loblied auf das Land Brandenburg, das zum ständigen Repertoire eines der Finsterwalder Chöre gehört.1 Mag diese kleine Übertreibung auch der Sangeseuphorie geschuldet sein, so steht doch fest, dass hier, in der einzigen Sängerstadt Deutschlands, der Gesang ein besonderes Zuhause hat und liebevoll gepflegt wird. Wie es zu dem Image, das den eher düsteren Namen Finsterwalde freundlich aufhellte, gekommen ist, und wie Finsterwalde mit diesem Image umgeht, wollen wir hier nachspüren.

Das Geschenk der Metropole an die Provinzstadt

Jedoch wer die Herkunft der als so außergewöhnlich gepriesenen Sangesfreude der Finsterwalder ergründen will und dabei allein auf das Niederlausitzer Städtchen schaut, wird den Ursprung und damit auch das Wesen dieses prestigeträchtigen Nimbus und des seit 120 Jahren stolz getragenen Rufes einer Sängerstadt nicht verstehen.

Bei allem Lokalpatriotismus muss nämlich anerkannt werden, dass die Wiege der legendären Finsterwalder Sänger nicht in Finsterwalde, sondern in Berlin stand. Dort, im Dunstkreis der »Grunewalder Holzauktion« oder der berühmten »Rixdorfer Musike«, erblickten die Sänger von Finsterwalde das Licht der Welt. Die Großstadt Berlin hatte sich nach 1871 nicht allein zum politischen und wirtschaftlichen Zentrum des neuen Kaiserreiches, sondern auch zur Vergnügungshauptstadt entwickelt. Schier unüberschaubar war das Angebot, sich zu amüsieren, zu tanzen, zu lachen und dem Alltag für ein paar Stunden zu entfliehen. Zahlreiche Theater, Varietés und Ballhäuser, die wie der Prater oder Clärchens Ballhaus mitunter noch immer einen geradezu legendären Ruf besitzen, lockten das Publikum. 1901 zählte man in Berlin nicht weniger als 22 Theater, zwei Zirkusse, 59 Singspielhallen und dazu noch 109 Vergnügungsstätten, in denen Singspiele, jedoch keine eigentlich dramatischen Stücke gezeigt werden durften.2 Die Friedrichstraße mit dem berühmten Wintergarten im Norden und dem Apollotheater im Süden war die berühmteste Amüsiermeile der Metropole. Aber auch weiter nördlich und östlich bis zum Alexanderplatz konnten Nachtschwärmer auf ihre Kosten kommen. In diesem Gebiet lag auch das Etablissement, das als Geburtsstätte der Finsterwalder Sänger gelten kann: die Germania-Prachtsäle von Arnold Scholz in der Chausseestraße 103.

Ein Produkt der Berliner Vergnügungsszene waren die Herrensängergesellschaften. Allabendlich zogen sie Tausende Zuschauer in ihren Bann. Diese Gesellschaften bestanden aus etwa sechs bis zehn Sängern, denen ein Direktor vorstand, der wiederum nicht nur Künstler, sondern zugleich auch privatwirtschaftlicher Unternehmer war. Herrensängergesellschaften konnten nur als Ensemble bestehen, aber jedes Mitglied war ein ausgewiesener Könner seines Fachs. Jeder musste nicht nur musikalisch und stimmlich ›von sich hören lassen‹, es galt auch, ebenso schauspielerische, tänzerische und sogar artistische Leistungen zu zeigen. Das Programm der Gesellschaften beinhaltete eine große Spannbreite vokalmusikalischer Darbietungen bis hin zum Theaterspiel. Mehrstimmiger Männergesang ernster und heiterer Art, Couplets, Deklamationen, Kostümszenen und kurze Theaterstücke, meist Burlesken, wechselten sich munter ab. Viele Herrensängergesellschaften boten ein abendfüllendes Repertoire, andere traten als Teil eines Varieté-Programms auf.

Eine dieser Herrensängergesellschaften waren die Hamburger Sänger, die entgegen ihrem Namen fast ausschließlich in Berlin auftraten. Ihr Direktor, der damals 47-jährige Wilhelm Wolff, reichte am 21. August 1899 bei der Zensurbehörde des Polizeipräsidiums Berlin sein neuestes Theaterstück, die Burleske »Die Sänger von Finsterwalde«, für die Erteilung der Aufführungsgenehmigung ein. Diese Erlaubnis, mit der Unbedenklichkeitsbescheinigung: »Es gibt nichts zu erinnern«, erteilte der Beamte am 26. August. Und am 3. September, in ihrer Geburtsstunde abends acht Uhr, betraten schließlich Finsterwalder Sänger als Hauptakteure des »Humoristischen Gesamtspiels« die Bühne der Germania-Prachtsäle und damit die Bretter, die die (Theater-)Welt bedeuteten.3

Ort der Handlung ist das Entree eines »Hotels zum blauen Engel«, dessen Besitzerin sich bei Ankunft der Gäste jedoch außer Haus befindet. Sie ist mit dem Fahrrad unterwegs. Ein untrüglicher Hinweis für das Publikum: Hier kann es nur drunter und drüber gehen, denn welche seriöse Frau wagt sich damals auf ein Veloziped. Hausdiener Friedrich erweist sich denn auch als restlos überfordert, die Reisenden, die eine kurze Sommerfrische genießen wollen, geordnet unterzubringen. Neben den drei Finsterwalder Sängern begehren Töpfermeister Lehmann nebst seiner Gattin Mathilde sowie Rentier Pröpke mit Ehefrau Julie Kost und Logis. Alle meinen, im gleichen Zimmer unterzukommen. Verwechslungen sind so die Triebkräfte der Handlung. Hinzu treten noch die kleinen Macken der Gäste, wobei die Ehepaare als gänzliche Gegenpole gezeichnet werden. Lehmann, ein grober, aber nicht vollkommen unsympathischer Mann, der wohl heute das Etikett Macho erhielte, geht mit seiner Frau, der »Olleken«, meist jedoch der »Ollen«, recht rüde um. Diese hingegen ist die aufopfernde gute Seele, die das Haushaltsgeld für die Urlaubstage mit Freude sparte. Pröpke besetzt die Rolle des geduldigen Schafes, das bestenfalls mit einigen kecken Worten unter dem ehelichen Pantoffel hervorlugt. Seine Frau Julie drangsaliert ihn von früh bis spät. Die Xanthippe, bei der das Barometer »sofort auf schlechtes Wetter« fällt, plagt den Gatten zudem noch mit grundloser Eifersucht. Bildet diese Figurenkonstellation schon genügend Spielraum für kräftige Komik, kommen mit den Finsterwalder Sängern die eigentlichen Protagonisten des Humors, der mitunter die Grenze zur derben Klamotte erreicht, auf die Bühne.

Auch diese drei haben sich auf Erholungsreise begeben, um »auszuruhen von des Tages Lasten und Mühen, um zu schwelgen in der göttlichen Natur«. Bei ihrer Sängerfahrt verzichteten sie ausdrücklich auf die Begleitung der besseren Hälften, denn mit »die Damen – da geht es sehr im Gelde!«. Und überhaupt wird eine »richtige Sängerfahrt nur von Sängern gemacht«. Folgerichtig intonieren sie als stimmgewaltige Sänger im Laufe des Stückes die ersten Takte so manchen Liedes aus dem Standardrepertoire der deutschen Männergesangsvereine: »Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben« oder »Grüß Gott mit hellem Klang, Heil deutschem Wort und Sang«. Meist aber trällern sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, begleitet von allerhand »Tralala« und »Täterätete«, die beiden Verse »Wir sind die Sänger von Finsterwalde, wir leben und sterben für den Gesang«.

Schon die Namensgebung der Sänger – Herr Pampel, Herr Knarrig und Herr Strippe – wirft auf sie ein bezeichnendes Licht. Daneben charakterisiert der Autor die drei durch ihre Kleidung, die er in den Regieanweisungen detaillierter beschreibt als die der anderen Figuren. Diese tragen die aktuelle Mode, die Sänger hingegen erscheinen mit dunklen Beinkleidern, Jackett und Weste oder den unterschiedlichsten Hutvarianten etwas aus der Zeit gefallen. Strippe hat sich sogar ein acht Meter langes Plaid wie eine Kompresse um den Leib gebunden, um sich seinen »Tenor nicht zu erkälten«. Auch ihre Ess- und Trinkgewohnheiten, die von den Akteuren sicherlich zur hellen Freude des Publikums als Slapstick-Einlagen voll ausgespielt wurden, lassen ihre Herkunft nicht in feinen Adressen vermuten.

Warum Wilhelm Wolff deren Herkunftsort gerade nach Finsterwalde verlegt, ist dem Berliner Humor geschuldet. Dieser als Berliner Herz und Schnauze kultivierte Mutterwitz braucht ein Opfer des Gelächters, für das der Provinzler die ideale Zielscheibe darstellt. Der Ortsname Finsterwalde, weil er im Gegensatz zu Posemuckel oder Krähwinkel sogar eine den Berlinern recht nahe Stadt bezeichnet, bietet sich dem erfahrenen Theatermann ideal an. Wie witzlos wäre es, Pampel, Knarrig und Strippe aus Sonnewalde4 anreisen zu lassen?

Das Spiel mit dem Provinz-Klischee war nicht der einzige Grund für den enormen Erfolg des Stückes; andere Ursachen zu benennen, fehlt hier leider der Platz. Jedenfalls erlebte die Burleske, auch wegen der Übernahme durch andere Herrensängergesellschaften, einen regerechten Triumphzug durch die Berliner Vergnügungsetablissements. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde sie immer wieder aufgeführt. Ihre Popularität lag aber wohl auch an dem sehr schlichten, ja simplen zweiversigen Text und wohl auch an der eingängigen Melodie und der zündenden Rhythmik des Sängerliedes. Leider sind dessen Noten im Stück nicht überliefert. Aber Pampel, Knarrig und Strippe müssen es mit Bravur geschmettert haben. Gewiss sang es das Publikum lautstark mit. Vielleicht sogar – wie Hausdiener Friedrich – im Berliner Dialekt: »Det sind die Sänger von Finsterwalde, die leb’n und sterben vor dem Jesang«.5 Bald verselbständigte sich das Lied, es erfuhr unzählige Bearbeitungen und Textvarianten. Einer der bekanntesten ›Nachnutzer‹ war Paul Lincke. Die Kernverse blieben als Refrain meist erhalten und setzten sich besonders in der Marschfassung von Robert Bachhofer als Ohrwurm nicht nur in Berlin, sondern im gesamten deutschsprachigen Raum fest und erlangten geradezu Volksliedstatus.

Der Hype um die Finsterwalder Sänger trieb vielfältige Blüten. So feierte am 9. März 1901 der Verein der ehemaligen Kameraden des 3. Garde-Regiments sein traditionelles Wintervergnügen in den Concordia-Festsälen Berlin unter dem Motto »Ein Sängerfest in Finsterwalde«, und in Bremerhaven bildeten am 8. Juli 1901 die Finsterwalder Sänger beim großen Umzug innerhalb des 53. Sängerfestes der Vereinigten Norddeutschen Liedertafeln den umjubelten optischen und akustischen Höhepunkt (Abb. 1).

Ein frischer Hauch in der Fabrikstadt

Nun wird es Zeit, sich von der großen Welt in die zu überraschender Berühmtheit gelangte Kleinstadt zu wenden. Spätestens am 4. November 1899 erfuhren die Finsterwalder vom Sängerlied. Mit dem Superlativ »Größter Schlager Berlins!« bewarb Papierwarenhändler Max Kotzschmar in der Lokalzeitung »Niederlausitzer Anzeiger« ein Notenblatt des humoristischen Marsches. Na, das war doch wohl ein Ritterschlag für Finsterwalde!?

1899 hatte die Einwohnerzahl des Niederlausitzer Städtchens erstmals die Zehntausender-Schwelle überschritten und sich damit gegenüber 1846 verdoppelt und gegenüber 1829 sogar vervierfacht. Günstige Erwerbs- und Verdienstmöglichkeiten boten dafür die Grundlage. Neben der aus dem traditionellen Tuchmacherhandwerk hervorgegangenen prosperierenden Tuchindustrie mit zwanzig größeren Fabriken siedelten sich hier weitere Wirtschaftszweige an. Mit Stolz konstatierte der »Niederlausitzer Anzeiger« im Januar 1899 die ökonomische Potenz der Stadt: eine bedeutende Metallschraubenfabrik, siebzig selbständige Zigarrenfabrikationsbetriebe, eine Zylinderhutfabrik, eine Luxusmöbelfabrik, zwei Spiel-, Sport- und Wagenfabriken, eine Toilettenwarenfabrik, die älteste deutsche Gummiwarenfabrik, eine Maschinenbauanstalt mit Eisengießerei, eine Kartonagenfabrik, eine Fahrradfabrik, fünf Baugeschäfte, vier Holzschneide- und drei Mahlmühlen, zwei Dampfbrauereien, drei Dampfölschläge, zwei Dampfschönfärbereien und schließlich vier Bildhauereien sowie drei Druckereien.6 Darüber hinaus verfügte die Stadt seit 1863 über ein profitables Gaswerk, das 1899 zur Befriedigung des rasant gestiegenen Energiebedarfs einen zweiten Gasometer errichteten musste. Zudem erschloss eine private Eisenbahnlinie das sich in dieser Zeit stürmisch entwickelnde Bergbaurevier der Niederlausitz für die Finsterwalder Industrie. Aber auch an das Staatsbahnnetz war Finsterwalde durch die Eisenbahnlinie Halle–Sorau direkt angeschlossen. 1899 wurden auf dem hiesigen Bahnhof 100.000 Reisende abgefertigt – eine Verdopplung gegenüber 1893.7 Die Metropole Berlin konnte über den nur zehn Minuten entfernten Umsteigebahnhof Doberlug-Kirchhain in weniger als zwei Stunden erreicht werden. Kommunikation ließ sich freilich auch schon fernmündlich herstellen, denn seit 1896 war Finsterwalde mit dem preußischen Telefonnetz verbunden. Schließlich soll im Reigen der Modernitätsbelege nicht vergessen werden, dass am 10. August 1899 das erste Automobil durch Finsterwalde tuckerte und dass im Folgejahr sogar in einer hiesigen Fahrradfabrik ein eigenes Auto entworfen und gebaut wurde.

Diese stolze Bilanz, die eindrucksvoll bestätigt, dass Finsterwalde längst den Status der Ackerbürgerstadt verlassen hatte, regte Anfang 1899 einen Stadtverordneten zu diesen selbstbewussten Reimen an:

»Wer hätte früher das gedacht:

Was wird jetzt alles hier gemacht!

Sonst war in Finsterwalde nix,

Seit ein’ger Zeit geht’s aber fix.

[…]

Wie sich das hebt, wie sich das rührt,

Es wird ä frischer Hauch verspürt.«

Freilich korrespondierte dieser frische Wind wenig mit dem ja nun wirklich zurückgebliebene Abgeschiedenheit suggerierenden Ortsnamen. Wohl deshalb fand sich immer wieder – auch im offiziellen Schriftgebrauch der Kommunalverwaltung – die Bezeichnung »Fabrikstadt Finsterwalde«. Vielleicht gelang es dadurch, ein Image von Fortschritt und Prosperität zu bewirken, aber die so provozierte bloße Vorstellung von rußigen Dampfwolken aus ungezählten Fabrikschloten verdüsterte wohl eher das Bild des finsteren Ortes.

Ein solcher war er jedoch für die Einwohner Finsterwaldes ganz und gar nicht. Neben der einigermaßen auskömmlichen Einkommenssituation bot er eine recht ansprechende Lebensqualität. Allein das äußere Erscheinungsbild gewann in dieser Zeit merklich. Repräsentative Neubauten im Jugendstil und im Historismus ersetzten ackerbürgerliche Häuser und begannen, das Stadtbild mitzuprägen. Es wuchs das allgemeine Bewusstsein, den Ort attraktiver zu gestalten. Diese Aufgabe hatte sich insbesondere der schon 1865 gegründete Verschönerungsverein auf die Fahnen geschrieben, der beispielsweise 1897 einen noch heute beliebten Promenadenweg anlegen ließ.

 Damit sind wir gleich bei der Frage, wie die Finsterwalder ihre Mußestunden nach dem Feierabend eines wenigstens zehnstündigen Arbeitstages oder am Wochenende verbrachten. Ein Grundbedürfnis auch dieser Zeit war das nach Unterhaltung und Zerstreuung, das am ehesten die zahlreichen Gasthäuser und Kneipen bedienten. 1899 gab es 60 Gaststätten, darunter 45 Bierlokale, zehn gehobenere Restaurants und zehn Kleinhandelsgeschäfte für Spirituosen, die gleichzeitig eine Verkostungslizenz besaßen. Einige größere Etablissements verfügten über einen oder mehrere Säle. Hier traf man sich in erster Linie zum Tanz, wobei die neuesten Berliner Moden, wie etwa der Rixdorfer, begeisterte Anhänger fanden. Häufig gastierten Wanderbühnen in der Stadt, die leichte, aber oft auch höchst anspruchsvolle Theater-Kost boten.

Die Bürger der Stadt konsumierten allerdings nicht nur Kultur: Als Mitglieder der vier einheimischen Theatervereine standen einige von ihnen in teilweise sehr ambitionierten Aufführungen selbst auf der Bühne. Bei den zahllosen Stiftungsfesten, Fahnenweihen oder auch privaten Feiern gehörten Vorträge selbst verfasster Gedichte oder kleiner Theaterszenen zum unverzichtbaren Bestandteil. Undenkbar wäre ein solches Ereignis ohne Gesang. Mangel an stimmlich geschulten Teilnehmern gab es wohl kaum, denn in der Stadt blühte um 1899 eine überaus vitale Chorszene (Abb. 2).

Das organisierte Singen besitzt in Finsterwalde eine lange und reiche Tradition, die spätestens im 16. Jahrhundert eingesetzt hat. Im Zuge der Reformation war auch hier mit der Kantorei ein Choro Musico entstanden.8 1565, im Jahre ihrer Ersterwähnung, konnte diese ehrwürdige Institution offenbar schon auf eine längere Existenz zurückblicken. 1616 gab sie sich unter dem Patronat der örtlichen Herrschaft, den Herren von Dieskau, ein umfangreiches Statut, die »Leges«.9 Nahezu 250 Jahre blieb die Kantorei der einzige Chor in Finsterwalde. Dann entstanden auch hier – in der Tradition der von Carl Friedrich Zelter initiierten Chorbewegung – Männergesangvereine: 1862 die Liedertafel, 1866 der Liederkranz, 1869 die Grüne Eiche und 1880 die Harmonie. Der Name des wohl 1885 gegründeten Männergesangvereins Einigkeit deutet auf Verbundenheit mit der sich in Finsterwalde rasch entwickelnden Arbeiterbewegung. Ausdrücklich als Arbeitergesangverein verstand sich der 1898 entstandene Chor Sangeslust. Diese Chöre waren nach den Vereinsbräuchen reine Männerdomänen, wobei Frauenstimmen durchaus auch in Finsterwalde für einen guten Ton sorgten. Schon 1866 traten Frauen gemeinsam mit Sangesfreunden der Liedertafel auf, um einige Musikstücke als gemischter Chor darzubieten.10 Bis zur Gründung eines selbständigen Frauenchores im Jahre 1909 musste allerdings noch einige Zeit ins Land gehen.

Das Aufblühen der Sangeskultur in Finsterwalde war freilich kein singuläres Ereignis, sondern spiegelte den Aufschwung der Chorbewegung in ganz Deutschland. Allerorten waren – auch als Folge sozialer und gesellschaftlicher Veränderungen, die für breite Bevölkerungskreise neben der Erwerbstätigkeit Freizeit und Mußestunden ermöglichten – solche Singegemeinschaften entstanden. Sie ermöglichten nicht allein die Pflege eines Steckenpferdes, sondern beförderten zugleich Geselligkeit und praktizierten als unabhängige Körperschaften Formen demokratischer und zivilgesellschaftlicher Selbstverwaltung.

Finsterwalder Chöre verstanden sich auch als Teil der nationalen und überregionalen Sangesbewegung. Schon 1865 nahm die Liedertafel am ersten großen deutschen Sängerbundfest in Dresden teil. 1869 und nochmals 1896 begrüßten die Finsterwalder Bürger Chöre aus der gesamten Region zwischen Bober, Neiße und Schwarzer Elster zu den Sängerfesten des 1863 gegründeten Niederlausitzer Sängerbundes. Finsterwalder Chöre waren selbstverständlich Mitglieder dieses Zusammenschlusses. Hochgeachtet, lenkte der Dirigent der Finsterwalder Liedertafel, der umtriebige Hauptlehrer an der hiesigen Knabenschule Louis Schiller, dessen Geschick mehrere Jahrzehnte.

In Finsterwalde besaß der Gesang also einen festen, aber wohl keinen außergewöhnlichen Platz im Bewusstsein der Stadtbewohner. Hier wurde viel gesungen, allerdings kaum mehr als in vergleichbaren Städten wie beispielsweise Spremberg oder Forst. Nirgendwo findet sich eine besondere Hervorhebung als ›Sänger von Finsterwalde‹ oder gar die Charakterisierung als ›Sängerstadt‹. Dieses Prädikat verdienten sich die Sängerinnen und Sänger in Finsterwalde erst durch die sicherlich nicht beabsichtigte Mitwirkung der in Berlin kreierten und zu nationaler Popularität gelangten »Sänger von Finsterwalde«.

Identifikation der Bürger mit ihrer Sängerstadt

Am 4. November 1899 erfuhren also die Finsterwalder durch die genannte Annonce und wenige Tage später durch weitere Inserate unter der Überschrift »Worüber man spricht«, dass ihr Ortsname durch den größten Schlager Berlins zu allgemeiner Berühmtheit avancierte. Leider verraten uns zeitgenössische Quellen nicht, wie sie selbst das Lied und die unverhoffte Berühmtheit aufnahmen. Jedoch, die Verkaufsannoncen lassen zunächst keinerlei Reserviertheit oder gar Ablehnung erkennen. Im Gegenteil: Stolz ist erahnbar, wenn der Ortsname mit einem Superlativ der Reichshauptstadt genannt wird. Allerdings scheint sich etwas später diese Stimmung teilweise geändert zu haben. Formulierungen wie »das weltberüchtigte Lied« und »wenig schmeichelhafter weltbekannter Gassenhauer« lassen Skepsis und Vorbehalte erkennen.11 Die Gründe dafür lagen gewiss auch darin, dass erste Postkarten mit Sängermotiven auftauchten, die absolut keine Identifizierung mit den dargestellten Sängern von Finsterwalde erlaubten. Karikaturen abgerissener und fragwürdiger Gestalten wurden hier gezeigt und in alle Welt verschickt. Nein, damit wollte und konnte man nichts gemein haben. Es wuchs die Ahnung, dass lediglich der Ortsname in seiner Skurrilität genutzt wurde, um ihn als Synonym für Hinterwäldlertum zu gebrauchen.

Aber das Lied war in der Welt. Vital verbreitete es sich in ganz Deutschland. Jedes Gegensteuern, Totschweigen oder trotziges Schmollen gegenüber dem zweifelhaften Ruf hätte wohl die Lächerlichkeit der Finsterwalder wirklich manifestiert. Sollte das Lied nicht eher für den Imagegewinn der Stadt genutzt werden? Immerhin bot es die landesweite Verbreitung des Ortsnamens zum Nulltarif. Ergab sich hier nicht vielleicht eine einmalige Chance für den bisher wenig bekannten und zugegebenermaßen nicht sonderlich bedeutenden Ort?

Ob den Herren des renommierten Männergesangsvereins Liedertafel unter ihrem Dirigenten Louis Schiller im Juni 1901 diese Gedanken durch die Köpfe gingen, wissen wir nicht. Aber mit ihrem Verhalten brachen sie das Eis gegenüber dem Gassenhauer. Sie bekannten erstmals in aller Öffentlichkeit, die Finsterwalder Sänger zu sein. Dazu wollten sie bei ihrer alljährlichen Sängerfahrt in den Spreewald reisen und dieses Bekenntnis selbstbewusst ablegen. Der »Niederlausitzer Anzeiger« kündigte sogar schon im Vorhinein diese mutige, von Souveränität zeugende Tat an: »Ein Banner mit der Aufschrift ›Wir sind die Sänger von Finsterwalde‹ wird der lustigen Sängerschar den Weg zeigen und die übrigen Spreewaldbesucher darauf aufmerksam machen, welch´ weltberühmter Sängerchor an diesem Tag unter den alten Wipfeln weilt und mit den Sängern des Waldes wetteifert.«12 Glücklicherweise hielten die – nunmehr im doppelten Sinne – Finsterwalder Sänger das Ereignis vom 9. Juni im Foto fest (Abb. 3).

Ja, wenn sich die hoch angesehenen und würdevollen Herren der Liedertafel zu diesem Lied bekannten, dann konnte wohl der Rest der Bevölkerung guten Gewissens folgen. Der Schritt zur Bezeichnung ›Sängerstadt‹ folgte dann auch nur wenige Wochen später. Am 10. Juli fand sich der Begriff erstmals im »Niederlausitzer Anzeiger«. Damit verfügte Finsterwalde über ein Bestimmungswort, das in seiner positiven Ausstrahlung gar nicht hoch genug einzuschätzen ist. Aus dem eher düsteren Namen Finsterwalde wurde die freundliche Sängerstadt. Ein Geschenk, das die Finsterwalder im Ursprung von Wilhelm Wolff erhielten. Es anzunehmen und für sich zu nutzen, ist der eigentliche Beitrag der Bürger dieser Stadt an ›ihrem‹ Sängerlied.

Jedoch schon bald, nachdem sie begonnen hatten, sich des Sängerliedes anzunehmen, gab es Bemühungen, dessen Geschichte darzustellen und zu deuten. Unverkennbar war dabei die Absicht, die Ursache für den Nimbus der berühmten Sänger nicht in einem Berliner Schlager und schon gar nicht in einem ulkigen Theaterstück mit so zweifelhaften Klamottenkomikern wie Pampel, Knarrig und Strippe zu suchen. Vielmehr versuchte man immer wieder, dessen Ursprung in der realen Stadt Finsterwalde und vor allem in der Sangesfreudigkeit ihrer Bewohner zu sehen, dem Lied eine ernsthaft-seriöse Bedeutung zu geben und eine höhere Weihe zu verleihen. Bierernst und verbiestert konstruierte man Entstehungsvarianten, um, wie es 1936 hieß, »zum Witzeln und Höhnen absolut keinen Anlass«13 zu liefern. Die Wolffsche Burleske musste folgerichtig immer mehr in den Hintergrund treten, bis sie schließlich fast gänzlich in Vergessenheit geriet.

Bereits 1901 setzte der Verklärungsprozess ein: »Die Sänger von Finsterwalde werden so viel belacht, dass jedermann beinahe mitlachen möchte. Die Sache hat aber einen sehr ernsten Hintergrund.«14 Und diesen sah der um den Ruf der Stadt besorgte Leserbriefschreiber in einer Episode aus dem Deutsch-Französischen Krieg. Damals hätten sich die zahlreichen Finsterwalder, die im Regiment 52 dienten und aus ihrer Heimat die Sangesbegeisterung mitbrachten, noch auf dem Schlachtfeld von Mars-la-Tour zusammengefunden, um ihre Kameraden mit aufmunternden Liedern zu erfreuen: »Dadurch sind die Sänger von Finsterwalde berühmt geworden.«15

Es verwundert nicht, dass diese Darstellung, obwohl ihr in Finsterwalde bald widersprochen und die Namensdeutung »auf den Berliner Wortwitz, der eben jeden aus der Provinz bespöttelt«,16 zurückgeführt worden war, bei der 600-Jahr-Feier der Stadt im Jahre 1936 offizielle Weihen erhielt. Freilich fehlte es an historischen Belegen, deshalb beauftragte der Bürgermeister den aus Finsterwalde stammenden Maler, Professor Georg Wagenführ, mit der künstlerischen Darstellung des legendären Singens in Frankreich. Die so geschaffene, tausendfach verbreitete Postkarte verfehlte ihre Wirkung nicht (Abb. 4).

Nach 1945 geriet die militant-heroische Herkunftserklärung verständlicherweise ins Abseits. Sie wurde durch eine – freilich historisch ebenso wenig belegbare – Deutung ersetzt, die der Finsterwalder Gerhard Möbus 1954 in einigen Versen seiner von ihm geschaffenen mehrstrophigen neuen Sängerliedfassung proklamierte: »Die Weber fuhren zum Markt nach Leipzig/ Singvögel nahmen sie mit ins Land/ Das war’n die Sänger von Finsterwalde/ sie wurden bald überall bekannt.«17 Gern übernahmen die Finsterwalder diese Erklärungsvariante, fanden sie doch darin einen Teil ihrer durch die Tuchmacherei bestimmten Geschichte wieder (Abb. 5).

Die Popularität der Möbus-Fassung stieg nach 1990 noch weiter an, weil ein Sängerquartett aus Mitgliedern des Männerchores Einigkeit dessen Rhythmik und den Duktus der Strophen für neue Liedzeilen nutzt, um aktuelle Geschehnisse in der Stadt zu thematisieren. So gibt es kaum ein wichtiges Ereignis, das nicht von diesen vier Sängern von Finsterwalde begleitet und oft treffsicher kommentiert wird. Das Publikum bleibt bei diesen Auftritten nicht außen vor, sondern stimmt in den Refrain – die von Wilhelm Wolff kreierten Zeilen – ein.

So war es auch am 15. Mai 2002 bei der Einweihung des den Finsterwalder Sängern und ihrem Lied gewidmeten Denkmals (Abb. 6). Die bronzene Figurengruppe ist ein Werk der aus Finsterwalde stammenden Bildhauerin Evelyn Hartnick. Schon 1911 hatte es Ideen für einen das Sänger-Image repräsentierenden Sängerbrunnen gegeben. Die damals dafür gesammelten Spendengelder bildeten später den finanziellen Grundstock zur Errichtung einer Gedenkhalle für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges.

Im Jahr 2004 konnte das Projekt eines Sängerbrunnens doch noch verwirklicht werden. Der Finsterwalder Künstler Eckhard Böttger schuf dafür die gestalterischen Vorlagen, die der ebenfalls in der Stadt lebende Schmiedemeister Bernhard Körner in Metall umsetzte. Dieses Objekt erfreut sich nicht nur wegen der neckenden Sprühwasserberieselung, sondern auch wegen der liebevoll-witzigen Darstellung großer Beliebtheit. Manches Klischee, das die Finsterwalder mit den Sängern verknüpfen, wie die Zylinderhüte als unbedingtem Kleidungsstück, diente dem Künstler als Spielball seines erfrischenden Humors. In den Reigen der Sängerdarstellungen reiht sich seit Juli 2020 eine von den in der Region beheimateten Künstlern Aram und Ararat Haydeyan entworfene Figurengruppe ein, die am nördlichen Eingang zur Innenstadt geschmackvoll und ohne nostalgische Attribute die Sangesfreude als zeitloses Charakteristikum dieses Ortes präsentiert, der seit Mai 2013 mit ministerieller Genehmigung die offizielle Zusatzbezeichnung Sängerstadt führt.

Zum Selbstverständnis als Sängerstadt trägt auch das Finsterwalder Kreismuseum bei. Einmal bietet es vier Chören Proben- und Auftrittsräume, vor allem aber profilierte es sich in seiner Sammlungs-, Forschungs-, Ausstellungs- und Veranstaltungstätigkeit als Sängermuseum. Pünktlich zum 100. Geburtstag, am 3. September 1999, öffnete die ständige Ausstellung zur Geschichte und Wirkung des Sängerliedes ihre Pforten, und seit Mai 2010 können die Besucher dem »Finsterwalder Chorwurm« durch die Jahrhunderte vom Mittelalter bis zur gerade vergangenen Gegenwart folgen. Diese Exposition ist gespickt mit Objekten zur Sangesgeschichte nicht allein aus Finsterwalde, sondern aus Brandenburg, Sachsen und vielen anderen deutschen Regionen. Wie es sich für einen »Chorwurm« gehört, lässt er durch Klangbeispiele die Historie des Gesangs auch akustisch nacherleben. 1954 feierten die Finsterwalder ihr erstes Sängerfest – ein wegen des überstandenen Krieges und des Überwindens der Nachkriegsnot vor (Über-)Lebensfreude strotzendes Volksfest. Es wurde zum Maßstab aller folgenden Sängerfeste. Ab 1992 werden sie im Zweijahresrhythmus mit bewundernswertem Aufwand vom Sängerfestverein organisiert. Die begeisterte Resonanz und die frohe Stimmung Tausender Besucher und auch der Akteure, zu denen vor allem die Sängerinnen und Sänger der heimischen Chöre gehören, bündeln wie in einem Fokus alle positiven Assoziationen des Begriffs Sängerstadt. Und wenn bei der Eröffnung auf dem weiten Marktplatz aus unzähligen Kehlen das Bekenntnis »Wir sind die Sänger von Finsterwalde« erklingt, dann symbolisiert das ›Wir‹ wohl auf schönste Weise die Identität der Bürger mit ihrer Sängerstadt.

Anmerkungen

1 Das Lied »Brandenburg, unser Land« wurde von den »Arbeitersängern« nach 1990 in ihr ständiges Repertoire aufgenommen. Ihre Suche nach dem Autor von Text und Melodie verlief bisher erfolglos.

2 Landesarchiv Berlin (LAB), Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Polizei Th., Nr. 1465, S. 118ff.: Bericht der gemeinsamen Sitzung der Sittlichkeitskommissionen sämtlicher Berliner Synoden 5.1092.

3 Ebd., Nr. 1192, S. 18 f.

4 Die nur zehn Kilometer entfernte Nachbarstadt Finsterwaldes.

5 Alle Zitate aus dem Theaterstück sind dem Textheft der Unterlagen der Zensurbehörde entnommen: LAB, Nr. 1799b. Als verkleinerter Reprintdruck wurde es veröffentlicht unter dem Titel: Wilhelm Wolff, Wir sind die Sänger von Finsterwalde, Görlitz/Zittau 1999.

6 Niederlausitzer Anzeiger vom 14.01.1899.

7 Niederlausitzer Anzeiger vom 31.10.1899.

8 Ausführlich dazu Rainer Ernst, »... es sich zur Ehre anrechnen, Mitglied der Cantorei zu sein«. Die Kantorei, der Kirchengesang und die Entstehung neuer Chöre in Finsterwalde um 1865, in: Der Speicher. Jahresschrift des Kreismuseums Finsterwalde und des Vereins der Freunde und Förderer des Kreismuseums Finsterwalde e.V. 4 (2000), S. 37‒42.

9 Dieses für die lokale Kulturgeschichte aufschlussreiche Dokument ist abgedruckt in ebd. S. 97‒102.

10 Finsterwalder Wochenblatt vom 18. 08.1866.

11 So unter anderem im Niederlausitzer Anzeiger vom 22.08.1903.

12 Niederlausitzer Anzeiger vom 7.06.1901.

13 Wilhelm Gericke, Geschichte der Stadt Finsterwalde, Finsterwalde 1936, S. 51.

14 Niederlausitzer Anzeiger vom 10.07.1901.

15 Ebd.

16 So Niederlausitzer Anzeiger vom 13.08.1901 und vom 18.08.1911.

17 Roland Reichelt, Wir sind die Sänger von Finsterwalde. Das Original aus alten Archiven gekramt, in: Magazin der »Lausitzer Rundschau« zum Sängerfest 1994 vom 20.08.1994, S. 17.

Abbildungsnachweis

Abb. 1 Märkische Volksstimme vom 12. Dezember 1901.

Abb. 2, 4, 5 Autor.

Abb. 3 Sänger- und Kaufmannsmuseum Finsterwalde.

 

 

Der Beitrag erschien in:

Asche, Matthias / Czech, Vinzenz / Göse, Frank / Neitmann, Klaus (Hrsg.): Brandenburgische Erinnerungsorte - Erinnerungsorte in Brandenburg. Band 1 (= Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 24). Berlin 2021, S. 261-273.


Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.