Flugzeuge aus Rathenow

Werner Coch

Wie viele andere Regionen nimmt auch das Westhavelland für sich in Anspruch, einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Luftfahrt geleistet zu haben. Aber dieser Landstrich ist ein Sonderfall, denn hier fanden entsprechende Pionierarbeiten in mehreren zeitlichen Phasen statt. Am Gollenberg in Stölln führte Otto Lilienthal (1848-1896) die ersten kontrollierten Gleitflüge durch und löste mit seinem Buch „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“ eine rasante Entwicklung der Flugtechnik aus. Dr. Waldemar Geest (1879-1944), ein Schüler Otto Lilienthals, baute ab 1910 in Rathenow erste Motorflugzeuge, mit denen er in Berlin-Johannisthal eine Fliegerschule gründete und mehrere Preise gewann. Das Fluggelände in Stölln ist seit 100 Jahren ein beliebter Segelflugplatz, und schließlich entstand in Rathenow ab 1935 ein großes Werk für Flugzeugteile, die in Brandenburg/Havel zu den bekannten ARADO-Flugzeugen zusammengebaut wurden. Weiterhin soll untersucht werden, ob die berühmte Rathenower optische Industrie eventuell entscheidende Impulse zur Entwicklung der Luftfahrt ausgelöst hat. 

Otto Lilienthal in Stölln

Der Maschinenbau-Ingenieur Otto Lilienthal (Abb. 1) ist nach seinem Studium als Erfinder von Schrämmaschinen für den Bergbau und von Schlangenrohrkesseln für Dampfmaschinen bekannt geworden. Aber schon mit 19 Jahren hatte er sich mit den physikalischen Grundlagen von Luftströmungen und des Auftriebs befasst. Zusammen mit seinem Bruder Gustav baute er damals entsprechende Versuchsmodelle mit unterschiedlich gewölbten Flügeln. Hinzu kam die systematische Beobachtung des Vogelfluges, der ihn Zeit seines Lebens faszinierte. Er entwickelte 30 Grundsätze für die Konstruktion zukünftiger Flugapparate, die er in seinem Buch „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“ ausführlich beschrieb.

Nach Flugversuchen mit Gleitapparaten in Lichterfelde-Ost (Fliegeberg), Derwitz (Spitzer Berg) und Rhinow (Hauptmannsberg) entschied sich Lilienthal 1894 für den 110 m hohen Gollenberg bei Stölln, um längere Flüge durchführen zu können. Dieser Berg bot nicht nur einen allseitig unbewaldeten Absprunghang, sondern im Ort auch eine funktionierende Infrastruktur sowie Handwerk für alle technischen Belange. Es gelangen ihm dort gesteuerte Gleitflüge mit Kehrtwendungen bis zu einer Weite von 250 m (Abb. 2). Wie bekannt ist, stürzte er am 9. August 1896 durch eine thermische Ablösung bzw. „Sonnenbö“ aus 15 m Höhe ab und verstarb einen Tag später in Berlin.

Auch wenn es vor ihm zahlreiche Flugversuche gegeben hat, war Otto Lilienthal doch derjenige, der das Flugproblem grundsätzlich gelöst hat. Er war der erste, der die Wirkung verschiedener Flügelprofile wissenschaftlich untersuchte und darauf aufbauend kontrolliert geflogen ist. Er war auch der erste, der seine Flugapparate zur Serienreife entwickelte und erfolgreich verkaufte.

Die „Möwen“ aus Rathenow

Als Otto Lilienthal starb, war Waldemar Geest ein 17jähriger Schüler, der die Nachrichten über sein Vorbild aufmerksam verfolgte. Er beobachtete die Gleitflüge von Raubvögeln und erprobte zahlreiche selbstgebaute Flügelmodelle aus Papier, Bambus und Textilien. Auch während seines Medizinstudiums in Freiburg/Breisgau beschäftigte er sich weiter mit diesem Thema. Er erfand eine flügelartige Tragfläche, die „von innen nach außen gebogen und um eine S-förmige Linie so gedreht ist, dass der innere Teil positiv angehoben und der äußere unter negativem Anstellwinkel zur Flugrichtung steht“ (Zit. nach Coch 2011, 5). Zwischen 1907 und 1912 meldete er dafür zahlreiche Patente im In- und Ausland an. Sein „Nurflügel“ bestach durch hohe Flugstabilität, die er bei einem Wettbewerb in München mit einem Modell von 2,5 m Spannweite unter Beweis stellte und einen von drei Preisen gewann (Abb. 3).

Im Jahre 1909 übersiedelte Dr. Geest in seine Geburtsstadt Berlin und ließ sich bei Gustav Lilienthal einen Hängegleiter bauen. Lilienthal verwies ihn auf den Gollenberg, warnte aber auch vor den Gefahren beim Fliegen. Dr. Geest ließ sich nicht abschrecken und führte dort seine Erprobungen durch: „Kurze Flüge gelangen. Der Appparat wurde jedoch bald zerschmettert.“ (Zit. nach Coch 2011, 8).Innerhalb weniger Tage entwarf er den verbesserten Gleiter „Weih“ und ließ ihn gleich in Stölln beim örtlichen Stellmacher Hermann Beutler aus Bambusstangen und Segeltuch bauen (Abb. 4). Nach vier Wochen war der Gleiter fertig und bewährte sich mit seiner patentierten Flügelform und einer verbesserten Steuerung bei zahlreichen Flugversuchen.

Dr. Geest wandte sich nun dem Bau von Motorflugzeugen zu. Da er mit der Rathenower Wagenbaufirma der Gebr. Wietz kompetente und aufgeschlossene Partner fand, zog er im Herbst 1910 mit seiner Familie nach Rathenow, um hier die Arbeiten zu koordinieren. So entstand im Winter 1910/11 bei Wietz der Eindecker „Möwe 1“ mit 18,5 m² Flügelfläche und mit einem in Berlin beschafften 50 PS Argusmotor (Abb. 5). Gleich der erste Startversuch auf dem holprigen Rathenower Exerzierplatz scheiterte, aber Dr. Geest erkannte die Ursachen. Für die „Möwe 2“ wurden der Sitz unter den Rumpf verlegt, ein stärkerer Motor eingebaut und der Benzinfluss optimiert. Da das Rollfeld in Rathenow nicht eben genug war, bot sich als Lösung an, die „Möwen“ für den Bahntransport zu zerlegen und auf dem 1909 gegründeten „Motorflugplatz“ in Johannisthal wieder aufzubauen. Dort gelangen damit schon 1912 bis zu 20 Minuten lange, ruhige Flüge. Auch die bei den Gebr. Wietz mit weiteren Verbesserungen gebauten Doppelsitzer „Möwe 3", „Möwe 4“ und „Möwe 5" wurden in Johannisthal erprobt, denn der Ort hatte sich seit 1912 zu einem Entwicklungszentrum für die Flugtechnik gemausert. Dr. Geest mietete dort im Sommer 1912 einen Hangar, gründete eine „Fliegerschule“ und flog selbst auf der „Möwe 3“ eine Platzrunde mit dem Piloten Richard Hartmann als seinem ersten Passagier (Abb. 6). Die „Möwe 4“ hielt sich 1913 bereits zwei Stunden lang stabil in der Luft und mit der „Möwe 5“ gewann Dr. Geest einen Preis von 35.000 Mark für den Bau einer neuen Maschine unter Aufsicht und Mitarbeit der Versuchsanstalt für Luftfahrt in Adlershof, also mit Unterstützung von Experten. Anfang 1914 entstand die „Möwe 6“ (Abb. 7) mit Stahlrumpf, an der nach einer gewonnenen Ausschreibung wieder Flügel der Rathenower Firma der Gebr. Wietz montiert wurden (Abb. 8). 

Der Erste Weltkrieg unterbrach die weitere Entwicklung einer friedlichen Luftfahrt. Dr. Geest (Abb. 9) verlegte seinen Lebensmittelpunkt wieder nach Berlin, wurde aber bald als Arzt zum Militär eingezogen. In seinen Memoiren schrieb er: „Ich hätte nie gedacht, dass ich in späteren Jahren als Arzt für Luftschutz das wieder bekämpfen musste, was ich einst in Begeisterung hatte mit schaffen helfen.“ (Zit. nach Coch 2011, 28).

Segelfliegen in Stölln/Rhinow

Mit dem Friedensvertrag von Versailles musste das Deutschen Reich seine Luftstreitkräfte auflösen und alles abgeben oder zerstören, was mit dem Flugwesen zu tun hatte. Lediglich das motorlose Gleit- und Segelfliegen wurde erlaubt. Das führte ab 1920 zu einem starken Aufschwung dieser Sportart, indem mehrere Berliner Segelflugvereine den traditionsreichen Flugplatz in Stölln wieder neu entdeckten. Hier trainierte man für die Segelflug-Wettbewerbe auf der Wasserkuppe in der Rhön und erprobte zahlreiche Neuentwicklungen. Im Jahre 1931 wurde Stölln durch den Luftfahrt-Fachverband als Rekord-Gelände für Segelflüge anerkannt.

Im ersten Halbjahr 1936 entstand am Gollenberg die „Segelflugschule Rhinow“ (Abb. 10). Sie nutzte die Begeisterung der Jugend für das Fliegen und diente gleichzeitig als Basis für die militärische Fliegerausbildung. Hunderte von Jugendlichen nahmen hier an drei- bis vierwöchigen Kursen teil und legten ihre Segelflieger-Prüfungen A, B und C ab. Die meisten wurden weiter zu Piloten ausgebildet und viele von ihnen starben im Zweiten Weltkrieg.

Danach war der Flugplatz Stölln ununterbrochen ein Zentrum für das Segelfliegen. Er hat heute den Status als Sonderlandeplatz mit der ICAO-Kennung „EDOR“. Zugelassen sind Segelflugzeuge in der Startart Winden- und Flugzeugschlepp, selbststartende und nichtselbststartende Motorsegler, Ultraleichtflugzeuge, Gleitsegel, Hängegleiter sowie Fallschirmsprünge. Betreiber ist der Flugsportverein „Otto Lilienthal“ Stölln/Rhinow e.V.

ARADO-Flugzeuge

Die ARADO-Flugzeugwerke gab es nur rund 25 Jahre lang, aber diese Zeit war stark gekennzeichnet durch technische Entwicklungen sowie durch strukturelle und personelle Veränderungen. Ausgehend von Warnemünde wurde der Firmensitz ab 1935 schrittweise nach Potsdam-Babelsberg und Brandenburg verlegt. Das Zweigwerk Rathenow entstand ab 1936 im Süden der Stadt an der Städtebahn nach Brandenburg. Für die Mitarbeiter wurde der neue Haltepunkt „Heidefeld“ eingerichtet und für den Rohstoff- und Produkttransport ein Anschlussgleis verlegt. In zwei Montagehallen sowie weiteren Hallen für Materialprüfung, Blech-Zuschnitt und Pressen wurden ab 1937 Tragflächen für die Flugzeugtypen He 111, Ju 88 und He 77 hergestellt (Abb. 11). Hinzu kamen Leitwerke, Fahrwerksverkleidungen und Kleinteile für die Typen Ar 96, Fw 190, Ar 224 und andere. Im Jahre 1940 waren in Rathenow 1.680 Beschäftigte tätig. 1944 waren es mehr als 2.000, darunter über 1.000 ausländische Zwangsarbeiter. Zwischen 1937 und 1944 wurden jährlich bis zu 26 Lehrlinge als Metallflugzeugbauer mit dem Schwerpunkt Leichtmetallbearbeitung ausgebildet. Zur Lehrausbildung gehörte auch das Segelfliegen in den Hügeln links der Havel bei Milow und Bützer.

Durch den Bombenangriff am 18.04.1944 wurden drei Hallen und das Heizwerk beschädigt. Daher hat man die Produktion für sechs Wochen teilweise in andere Betriebe verlagert. Ein Jahr später endete die Rathenower Flugzeugproduktion.

Nach dem Kriegsende wurde die Fläche von den sowjetischen Truppen beansprucht und bis 1992 für die Wartung und Instandsetzung von Panzern und anderen Gefechtsfahrzeugen genutzt. Heute ist das Gelände ein Gewerbegebiet mit über 1.000 Arbeitsplätzen.

Berührungspunkte zur Rathenower optischen Industrie

Eine Untersuchung aus dem Jahre 2009 ergab, dass die Rathenower optische Industrie der Entwicklung der Luftfahrt nicht so viele Impulse gegeben hat, wie es vom vorhanden feinmechanisch-optischen Potential her möglich gewesen wäre. Um 1930 wurde der Standort in Deutschland als „Rathenower Großindustrie optischer Instrumente“ wahrgenommen. Die Vielfalt der hergestellten Produkte und die ständige Erneuerung der Produktpalette zeigen, dass in den Rathenower Betrieben jahrzehntelang praxisorientierte Entwicklungsarbeiten geleistet worden sind. Bedeutende Ergebnisse waren die Entwicklung des ersten Weitwinkelobjektivs „Pantoscop“, die Mitwirkung bei der praktischen Photogrammetrie und die Objektiv-Entwicklungen für die gesamte Fotografie. Sicher ist auch, dass in der betrachteten Zeit in Rathenow vorrangig Produkte mit hohen Stückzahlen hergestellt wurden und daher bahnbrechende Neuentwicklungen die Ausnahme waren. Belege für die Entwicklung von Fluginstrumenten oder Messgeräten für das Cockpit konnten nicht gefunden werden. So beschränkt sich der Rathenower Beitrag für die Entwicklung der Luftfahrt auf die Lieferung von Schutzbrillen, Prismengläsern, Fernrohren und die Zulieferung von Objektiven für bedeutende Dresdner Kamerahersteller.

Quellen

Deutsches Technik-Museum Berlin, Archiv Dr. W. Geest.

Kreis- und Verwaltungsarchiv Friesack, Adressbücher und historische Zeitungen.

Literatur

Coch, Werner: Die „Möwen“ aus Rathenow. Rathenow 2011.

Coch, Werner, Hille, J. und Hille, F.: Stölln, der Gollenberg und der älteste Flugplatz der Welt. Gollenberg OT Stölln 2016.

Sommerfeld, M.: Flugzeugproduktion in Rathenow - ein fast vergessenes Stück Industriegeschichte. In: Rathenower Heimatkalender 2000, S. 83-90.

Coch, Werner: Die Rathenower optische Industrie und die Entwicklung der Luftfahrt - eine Spurensuche nach Berührungspunkten. In: Rathenower Heimatkalender 2009, S. 79-80 und dgl. 2010, S. 72-74.

Abbildungsnachweis

Abb. 1, 2, 10: Coch, Werner u.a.: Stölln, der Gollenberg und der älteste Flugplatz der Welt. Gollenberg OT Stölln 2016.

Abb. 3-9: Coch, Werner: Die „Möwen“ aus Rathenow. Rathenow 2011.

Abb. 11: Sommerfeld, M.: Flugzeugproduktion in Rathenow - ein fast vergessenes Stück Industriegeschichte, Rathenower Heimatkalender 2000, S. 83-90.

Empfohlene Zitierweise

Coch, Werner: Flugzeuge aus Rathenow, publiziert am 14.03.2022; in: Industriegeschichte Brandenburgs, URL: http://www.brandenburgikon.de (TT.MM.JJJJ)


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