(Weiß-)Gerberhandwerk (Doberlug)-Kirchhain

Andreas Hanslok

Grundlagen

Die Entwicklung der Ortschaft Kirchhain in der Niederlausitz zu einer der bedeutendsten Gerberstädte Deutschlands ist im Wesentlichen auf drei Standortfaktoren zurückzuführen:

  1. Der Boden in der städtischen Umgebung eignete sich nicht für eine ausschließlich ackerwirtschaftliche Nutzung. Daher wurde von großen Teilen der Bevölkerung bis zur Aufhebung der Dreifelderwirtschaft um 1850 verstärkt die Schafzucht und Weidewirtschaft betrieben. Der Rohstoff Schaffell, aus dem Leder erzeugt werden konnten, stand also vor Ort in ausreichender Menge zur Verfügung.
  2. Durch die Stadt fließt die „Kleine Elster“, ein Fluss, der ein sehr weiches, sauberes, eisenfreies Wasser mit sich führt, das sich hervorragend für die Vorarbeiten der Gerbung, aber auch den Gerbvorgang selber eignet.
  3. Durch Kirchhain führte einst der Abzweig einer mittelalterlichen Salzstraße, die den Osten des Reiches mit den Salzstätten Halle und Lüneburg verband. Gekreuzt wurde diese Salzstraße von der Poststraße Dresden-Berlin. Auf ihr fuhren die Gerber zu den Messen, und von diesen brachten sie sich aus Leipzig, Berlin oder Frankfurt/Oder Gerbstoffe mit nach Hause. Später wurde diese Gerbstoffbeschaffung durch den Anschluss der Stadt an das Eisenbahnnetz (1871-1875) erheblich erleichtert.

Die Verfügbarkeit des Gerbstoffes Alaun (Kaliumaluminiumsulfat), durch dessen Einsatz bei der Gerbung ein weißes, feines, leichtes Leder hergestellt werden konnte, ist als eine Grundvoraussetzung für das Erstarken des Weißgerberhandwerks anzusehen. Schon während des Altertums exportierte man Alaun aus Kleinasien, vor allem aus Phocäa (heute Türkei), nach Europa. Nach dem Fall von Konstantinopel (1453) wurde die weitere Einfuhr dieses Rohstoffes unter Androhung der Exkommunikation vom Papst untersagt. Der Heilige Vater schuf mit dem Abbau und Verkauf des bei Tolfa (Italien) 1455 entdeckten Alauns ein päpstliches Alaunhandelsmonopol. Dieses wurde erst seit der Reformation unterlaufen. Die erste deutsche Alaunsiederei errichtete man 1554 in Oberkaufungen (Hessen). Bald entstanden weitere Alaunsiedereien in Torgau, Reichenbach, Freienwalde, Muskau und Olmütz. Damit waren die wichtigsten Voraussetzungen für die in der frühen Neuzeit einsetzende rasante Entwicklung der Weißgerberei in Europa geschaffen worden. Erst mit der Entstehung zahlreicher vom Vatikan unabhängiger Alaunsiedereien wurde das Weißgerberhandwerk wirtschaftlich bedeutsam und etablierte sich durch die Schaffung eigener Organisationsformen (Zünfte) zu einem eigenständigen Handwerks- und damit Wirtschaftszweig.

Anfänge und Wachstum

Eine solche Entwicklung nahm das Gewerk auch in der Niederlausitzer Stadt Kirchhain. Im Jahre 1627 erfolgte die erste schriftliche Erwähnung der Kirchhainer Weiß- und Sämischgerber in den Dresdner Ratsakten. Sie fertigten vornehmlich weißgare, das heißt mit Kochsalz und Alaun gegerbte sowie sämischgare, mit Fett oder Fischtran gegerbte, Schaf- und Ziegenleder. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich im Jahr 1685. Mit ihnen kamen eine Reihe von Innovationen nach Deutschland, unter anderem auch die Handschuhfertigung, was wiederum die Nachfrage nach weißem Glacéleder verstärkte. Das Tragen von Handschuhen wurde schließlich am Ende des 18. Jahrhunderts zu einer allgemeinen Mode. Um sich mit ihren vor allem bei den Handschuhmachern sehr gefragten, qualitativ hochwertigen Ledern von ortsfremder Konkurrenz und von sogenannten Pfuschern noch besser abgrenzen zu können, baten die Kirchhainer Gerber im Jahre 1811 den sächsischen König, der Errichtung einer eigenen Innung zuzustimmen. Dies wurde 1812 abgelehnt. Da es im Ergebnis der Befreiungskriege zur Abtrennung der Niederlausitz von Sachsen und zum Anschluss des Landes an Preußen kam, wird das Jahr 1811 als Gründungsjahr der Kirchhainer Gerberinnung angesehen.  

Obwohl mit dem Übergang zur maschinellen Textilfertigung im 19. Jahrhundert sowie der Einfuhr billiger Baumwollstoffe immer mehr Bekleidungsleder vom Markt verdrängt wurden, behaupteten sich die Kirchhainer Gerber mit ihren Ledern. Hierfür gab es mehrere Gründe. Neben technischen Innovationen, z.B. dem Einsatz des Gerbfasses in den Gerbereibetrieben, versuchte man die Gerbung noch besser auf die spätere Verwendung der Leder auszurichten. Das Gewerk der Weiß- und Sämischgerber stellte sich außerdem breiter auf, indem es ab Mitte des 19. Jahrhunderts neben weiß- und sämischgaren, auch lohgare (mit Rinde gegerbte) Schafleder herstellte. Sichtbaren Ausdruck fand dieser Sachverhalt in den Innungsartikeln, die 1853 einer Revision unterzogen wurden. Die Innung der Weiß- und Sämischgerber nannte sich von nun an „Gerberinnung zu Kirchhain“. Somit konnten auch andere Gerber als die Weiß- und Sämischgerber der Innung beitreten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts löste sich die Kirchhainer Kürschnerinnung auf und die meisten Kürschner wurden Gerber. Die Zahl der Innungsmitglieder wuchs von 17 im Jahr 1825 auf 66 im Jahr 1899.

Trotz starker nationaler und internationaler Konkurrenz konnte sich auch Anfang des 20. Jahrhunderts das Gerberhandwerk in Kirchhain wirtschaftlich behaupten, denn der Ort erschien damals vielen Außenstehenden als „eine einzige Gerbereianlage“ (Ebert 1913, S. 286). Die starke räumliche Konzentration der Gerbereibetriebe garantierte eine bedarfsgerechte Produktion, genügend Absatz und somit das Überleben auch vieler kleiner Familienunternehmen. Um die positive ökonomische Entwicklung des Gerberhandwerks abzusichern und diesbezüglich Einfluss auf die politischen Entscheidungsträger nehmen zu können, engagierte sich die Kirchhainer Gerberinnung u.a. ab 1901 im Zentralverein der Deutschen Lederindustrie, ab 1903 im Verein Deutscher Gerber und ab 1909 im Hansabund.

Die Kirchhainer Gerber nahmen aber auch Einfluss auf die wirtschaftliche Infrastruktur ihrer Stadt. So förderten sie im Jahre 1903 die Schaffung einer Wollwäscherei, in der die Schafshaare für die spätere Verarbeitung in der Textilindustrie gereinigt werden konnten. Im Jahr 1912 machten sie sich mit dem Bau einer Lederhalle, in der jährlich zunächst sechs Lederauktionen durchgeführt wurden, von den Messen in Leipzig, Frankfurt sowie Berlin unabhängig. Mit der Inbetriebnahme einer Lohmühle (Lohwerk) im Jahre 1916 stellten sie aus Fichtenrinde von nun an vor Ort ihren eigenen Gerbstoff her. Im Jahr 1923 gründeten sie im Rahmen der Innung eine Einkaufsabteilung, später -vereinigung, um für die Berufsgenossen zentral und damit preiswerter die benötigten Gerbstoffe zu beschaffen.

Neben der Mechanisierung der Produktion und der Anwendung von Schnellgerbverfahren etablierte sich ab 1910 die Chromgerbung in Kirchhain, ein Gerbverfahren, mit dessen Hilfe durch den Einsatz dreiwertiger Chromsalze in relativ kurzer Zeit qualitativ hochwertige Leder mit wertvollen Gebrauchseigenschaften hergestellt werden konnten. Doch obwohl dieses neue Gerbverfahren den Absatz und somit auch die Produktion des weißgaren Leders zurückdrängte, verschwand letzteres nicht vollständig, denn das wasserbeständige, widerstandsfähige und schnell hergestellte Chromleder war nie ein vollwertiger Ersatz für das edle, zarte, blendendweiße Glacéleder.

Trotz kriegsbedingter Beschränkungen bei der Belieferung mit Gerbstoffen und Rohfellen arbeiteten die Kirchhainer Gerbereien auch in diesen Zeiten weiter und passten sich den veränderten Rahmenbedingungen immer wieder an. So produzierten sie im Ersten Weltkrieg unter anderem Tornister-Kaninchenfelle sowie Gasmaskenleder, im Zweiten Weltkrieg Stahlhelmfutter- und, aus Mangel an Schaffellen, Schweineleder.

Gerberei in der DDR

Ab 1945 arbeiteten viele Kirchhainer Gerbereien trotz Enteignungen und Demontagen weiter. Sie bemühten sich, die Auflagen der Roten Armee und der Provinzialverwaltung für die Mark Brandenburg zu erfüllen. Dies war sehr schwierig, da überall Rohfelle und Gerbstoffe fehlten und ein akuter Kohlemangel sowie häufige Stromsperren die Produktion hemmten. Die von den Besatzern verfügte Verkaufssperre führte dazu, dass Betriebe Kredite aufnehmen mussten, um die Löhne zahlen zu können und eine von der SMAD verhängte Guthabensperre verhinderte Neuinvestitionen.

Aus der größten Gerberei in Kirchhain, der Firma Hollmigk, ging im Jahr 1947 der VEB Lederfabrik hervor. Schritt für Schritt vergrößerte sich das in Doberlug-Kirchhain produzierte Ledersortiment. Wurden bis 1945 noch in großem Umfang Halbfabrikate hergestellt, so erzeugte man nun, auch durch die Anwendung neuer Zurichtmethoden, veredelte Fertigleder: Schuhober-, Futter-, Galanterie-, Bekleidungs-, Orthopädie-, Täschner-, Arbeitsschutz- und Fensterleder.

Nach dem V. Parteitag der SED 1958 wurden auf Grund des politischen Druckes fünf Gerbereibetriebe und die Wollwäscherei halbverstaatlicht. Im Gegensatz zu privaten Betrieben konnten Betriebe mit staatlicher Beteiligung mit günstigeren Lohntarifen arbeiten. Aufgrund der höheren Löhne wanderten viele Arbeitnehmer aus den privaten Gerbereien, die sich ab 1952 in der Genossenschaft des ledererzeugenden Handwerks organisiert hatten, verstärkt in die staatlichen- bzw. halbstaatlichen Betriebe ab.

Mangels Rohware musste ab dem Jahr 1962 die Schaflederproduktion in den privaten Gerbereibetrieben eingestellt werden. In der Folge stieg man dort verstärkt auf die Herstellung von Schweineleder um. Nur der VEB Lederfabrik produzierte weiterhin Schafleder. Im Jahr 1967 verarbeitete er 900.000 Ziegenfelle und 400.000 Schaffelle zu Leder. 80 Prozent der Rohware wurden aus Indien, der Mongolei und aus Syrien importiert.

Das Verbot des Gebrauchs von Nitrospritzanlagen in privaten Gerbereien im Jahr 1969 beendete die Galanterielederherstellung in diesen Betrieben. Erhöhte Steuerforderungen, verringerte Rohwarenzuweisungen sowie die Beibehaltung ungünstiger Lohntarife setzten das private Gerberhandwerk ab 1972 zusätzlich unter Druck.

Der VEB Lederfabrik konnte 1974 durch die Anschaffung eines Vakuumtrockners, der die Trocknungszeit der Leder von zwei Stunden (Spannrahmentrockner) auf fünf Minuten verkürzte, und den Einsatz von Spritzbändern mit elektronisch gesteuertem Farbauftrag die Produktion erheblich steigern. So verarbeiteten in diesem Jahr die über 200 Beschäftigten dieses Betriebes 1,3 Millionen Schaf-, Ziegen- und Kängurufelle. Im Jahr 1978 wurde dem VEB Lederfabrik Doberlug-Kirchhain als erstem ledererzeugenden Betrieb der DDR in Anerkennung hervorragender Leistungen vom Amt für Standardisierung, Meß- und Warenprüfung der Titel „Betrieb der ausgezeichneten Qualitätsarbeit“ verliehen. Für die Neuentwicklung von Täschnerleder aus Schafnappa, das zu Damenlederwaren weiterverarbeitet wurde, erhielt er im Jahre 1987 in Leipzig Messegold.

Mit der im Zuge der politischen Wende in der DDR einhergehenden Erhöhung der Produktions- und Lohnkosten, einer deutlichen Verschärfung der Umweltschutzauflagen und dem fast vollständigen Wegbrechen der Absatzmärkte in Mittel- und Osteuropa, konnten sich die meisten Doberlug-Kirchhainer Gerbereibetriebe unter diesen veränderten Rahmenbedingungen im internationalen Wettbewerb nicht mehr behaupten. Viele stellten ihren Betrieb ein.

Im Jahre 1995 erfolgte auch die Schließung der größten Doberlug-Kirchhainer Gerberei, der Kirchhainer Leder GmbH, vormals VEB Lederfabrik.

Quellen

Archiv des Weißgerbermuseums Doberlug-Kirchhain.

Literatur

Cramer, Johannes: Gerberhaus und Gerberviertel in der mittelalterlichen Stadt. Bonn 1981.

Ebert, Georg: Die Entwicklung der Weißgerberei. Leipzig 1913.

Schlottau, Klaus: Von der handwerklichen Lohgerberei zur Lederfabrik des 19. Jahrhunderts. Opladen 1993.

Wiener, Ferdinand: Die Weißgerberei. Leipzig 1920.

Abbildungsnachweis

Abb. 1 Weigel, Christoph: Abbildung und Beschreibung der Gemein-Nützlichen Hauptstände (Faksimile-Neudruck der Ausgabe Regensburg 1698). Nördlingen 1987, S. 628.

Abb. 2 Amman, Jost: Das Ständebuch. Leipzig 1975, S. 56.

Abb. 3-9 Weißgerbermuseum Doberlug-Kirchhain.

Empfohlene Zitierweise

Hanslok, Andreas: (Weiß)Gerberhandwerk (Doberlug)-Kirchhain, publiziert am 10.11.2020; in: Historisches Lexikon Brandenburgs, URL: http://www.brandenburgikon.de (TT.MM.JJJJ)

Kategorien

Epochen: Absolutismus / Aufklärung - Preußische Provinz - Land / DDR-Bezirke
Themen: Wirtschaft


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