Hutfabrik C. G. Wilke, Guben
Maria Berger (mit Ergänzungen von Vinzenz Czech)
Den Grundstein für die vermutlich erste Hutfabrik in Deutschland legte Carl Gottlob Wilke (1796-1875) (Abb. 1) in Guben 1822. Wilke war im benachbarten Forst, das vor allem für seine Tuchproduktion bekannt war, zum Hutmachermeister ausgebildet worden. Der Hutfertigung jener Zeit kam zugute, dass die Vorbereitung der Wolle bis zur Herstellung des Wollflors gleich ist, sodass für die Produktion sowohl Maschinen als auch Kenntnisse der Tuchmacher genutzt werden konnten. Wilke probierte ein in der Tuchindustrie bekanntes Verfahren an einigen Hüten aus: das Dekatieren, das dem Walkprozess in der Tuchindustrie ähnelte. Dabei wird die „Wolle unter Druck mit trockenem Dampf behandelt, so daß ein glänzender und gegen Feuchtigkeit widerstandsfähiger Filz entsteht, der sich gut für die Herstellung von formbeständigen Hüten eignet“ (Krönert / Leibger 1995, 47). Er ließ sich seine Erfindung patentieren und konnte sein wohlgehütetes Betriebsgeheimnis seit 1854 fabrikmäßig anwenden.
Im Jahre 1859 ging bei Gelegenheit der Verheiratung des zweitältesten Sohnes Friedrich die Fabrik auf diesen über, der seine beiden Brüder Wilhelm und Theodor in das Geschäft mit aufnahm. Der ältere Bruder Wilhelm trat im Jahre 1870 wegen schwerer Erkrankung und der jüngere Bruder Theodor im Jahre 1876 wieder aus. Von da ab war Friedrich Wilke, der 1879 zum „Commerzienrath“, 1886 zum „Geheimen Commerzienrath“ ernannt und 1899 vom Kaiser durch Verleihung des Wilhelm-Ordens geehrt wurde, der alleinige Inhaber der Firma. Die Verkaufszahlen stiegen, die Firma wurde ausgebaut und ständig modernisiert.
Friedrich Wilke (1829-1908) profitierte von dem allgemeinen Wandel in der Bekleidungsindustrie, die anstelle der handwerklich produzierten Einzelstücke nun industriell – oft in maschineller Heimarbeit – massenhaft preiswerte Fertigkleidung produzierte, die „Konfektion“ (Büsch 1971, S. 102-105). Zum einen führte dies zu einer schnelleren Änderung der Mode. So trug der Herr im 19. Jahrhundert je nach Stand Zylinder oder Mütze. Es folgte der breitkrempige, flache Hut, der nach 1848 zur Alltagskleidung aller Bevölkerungsschichten avancierte. Zu festlichen Anlässen wurde seit den 1850er Jahren der von England herkommende steife Hut mit runder Kappe und schmaler Krempe modern (Foltin 1963, 63f.) Zum anderen machte die industrielle Fertigung die Ware preiswerter, womit sich Wilke neue Absatzmärkte erschließen konnte. Hüte aus Guben wurden nicht nur nach Berlin und in die europäischen Länder, sondern sogar nach Übersee verkauft.
Schon unter der Leitung der drei Brüder war das Geschäft fabrikmäßig und kaufmännisch in größerem Umfange betrieben worden. Friedrich Wilke baute in der Neustädter Gasstraße eine neue Fabrik, die 1864 ihren Betrieb aufnahm, 1874 auf die doppelte Größe und dann stetig im Umfang erweitert wurde (Abb. 2, 3). In den Jahren 1867 bis 1928 wuchs die Anzahl der Beschäftigten der Firma von 100 auf etwa 1.000 Mitarbeiter (Krönert / Leibger 1995, 47). Seit 1876 ließen sich auch Konkurrenzunternehmen in Guben nieder, so dass Ende der 1920er Jahre zehn Millionen Stumpen und Hüte pro Jahr verkauft wurden und fast ein Drittel aller Einwohner mit der Hutbranche zu tun hatten (Abb. 4, 5). Im Zweiten Weltkrieg musste die Hutherstellung eingestellt und die Fabrik in die Rüstungsproduktion einbezogen werden. Nachdem der teils zerstörte und demontierte Betrieb 1948 enteignet wurde, verließ die Familie Wilke die Gegend. Gubener Hüte wurden erneut produziert und gern getragen, mittlerweile musste die Produktion jedoch – nicht zuletzt aufgrund der hutlosen Mode – eingestellt werden.
Auch heute noch ist die Herstellung von Filzhüten mit zahlreichen Arbeitsschritten verbunden (Foltin 1963): Zunächst wird gewaschenes und getrocknetes Tierhaar, meist von Kaninchen oder auch Wolle, auf eine „Fachglocke“ aufgebracht. Dabei handelt es sich um einen durchlöcherten Konus, der durch Saugluft die Haarschicht festhält, die nun befeuchtet werden kann, so dass eine Decke entsteht, die „Fache“. Es folgt das Filzen, eine langwierige Prozedur, bei der unter Dampf und Hitze die Fache so oft geknetet und gewalkt wird, bis sie etwa auf ihre halbe Größe geschrumpft ist. Diese wird nun „Labraz“ genannt und solange weiterbearbeitet, bis sie wiederum schrumpft und fester wird in ihrer Konsistenz. Aus der kegelförmigen Filzform wird der Rundkopf, der Stumpen, aus dem dann durch Dehnen und Ziehen der Ränder, Färben und Bearbeiten der Oberfläche der eigentliche Hut gearbeitet wird. Dieser wird feucht in eine Form gepresst oder auf eine Holz- oder Metallform gebügelt. Abschließend wird er staffiert und garniert: Kopf oder Randsteppungen werden ausgeführt, das Hutfutter eingenäht, die Schweiß- und Hutbänder aufgesetzt und besonders bei Damenhüten wird allerlei schmückender Zierrat angebracht.
Was einst reine Handarbeit war, wurde durch Arbeitsteilung und Maschineneinsatz rationalisiert. Doch obwohl z.B. die Nähmaschine schon 1846 erfunden worden war, dauerte es Jahrzehnte, bis diese Technik für das Nähen von Hutfutter eingesetzt werden konnte. So zweckmäßig die Maschinen auch waren, um die fließenden, glatten Futterstoffe, die für manche Modelle plissiert wurden, exakt einzupassen, bedurfte es doch sehr viel Übung und enorm hoher Geschicklichkeit bei der Bedienung (Abb. 6, 7).
Nicht allein als Hutfabrikant wurde Friedrich Wilke berühmt, sondern auch als sozial engagierter Mann. Für unverschuldet in Not Geratene richtete er eine Unterstützungskasse, dann eine lnvalidenkasse, eine Betriebskrankenkasse und eine Betriebssparkasse ein. Er gründete eine Bibliothek und förderte den Betriebschor. Auch ließ er im Betrieb eine Kaffeeküche und einen „Essenssaal“ sowie einige Bäder installieren.
Der schon vor dem Ersten Weltkrieg befolgte Grundsatz, die Arbeiter auch in Zeiten schlechter Beschäftigung zu halten, führte dazu, dass in den 1920er Jahren fast ein Fünftel der Belegschaft auf eine 25jährige Betriebszugehörigkeit und mehr als die Hälfte bereits auf eine zehnjährige Mitarbeit zurückblicken konnten. Verbunden mit einer ebenfalls bereits vor dem Krieg betriebenen Siedlungspolitik durch die Gewährung von kleinen Hypotheken und zinslosen Darlehn verfügte die Firma über einen festen Mitarbeiterstamm (C.G. Wilke 1928, 224).
1877 finanzierte Wilke das städtische Siechenhaus, das später dem Wilke-Stift zugefügt wurde, und 1903 ließ er den Bau der evangelisch-lutherischen Kirche nach Entwürfen der Architekten Otto W. Spalding und Alfred Grenander errichten (Abb. 8, 9).
Im Andenken an seine Tochter Naemi, die 1870 im Alter von 14 Jahren an Typhus starb, gründete er im Februar 1878 in der Vorstadt das Naemi-Wilke-Stift, zunächst als Privatstiftung, und richtete ein Krankenhaus für Kinder bis zwölf Jahren ein. Die Stiftung wurde 1888 unter die Obhut des „Oberkirchenkollegiums der von der Gemeinschaft der evangelischen Landeskirche sich getrennt haltenden Lutheraner in Preußen“ gestellt. Wilke sorgte dafür, dass immer mehr soziale und medizinische Aufgaben vom Stift übernommen werden konnten. So wurde das Krankenhaus bald für Erwachsene erweitert, 1879 ein Kindergarten und 1898 eine Behindertenanstalt gegründet. 1883 entstand ein Diakonissenmutterhaus, denn dem Unternehmer war es gelungen, mit Unterstützung von Dresdener Diakonissen eine eigene Ausbildung im Stift zu etablieren. Die Entwürfe für einen Teil der Stiftsbauten, dem Diakonissenhaus und dem Wäschehaus, lieferten ebenfalls Spalding und Grenander. Das Naemi-Wilke-Stift nutzt bis heute die historischen Bauten und ist nach wie vor in medizinischen und sozialen Bereichen tätig, so dass die Tradition in Erinnerung an den Hutfabrikanten und Ehrenbürger der Stadt fortbesteht.
(Der Text erschien bereits 2001 im Rahmen der Ausstellung „Marksteine. Eine Entdeckungsreise durch Brandenburg-Preußen“ im gleichnamigen Ausstellungskatalog: Berger, Maria: Guben – Die Hutdynastie Wilke. In: Marksteine. Eine Entdeckungsreise durch Brandenburg-Preußen. Eröffnungsausstellung des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte 18. August – 11. November 2001. Herausgegeben vom Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte beim Museumsverband des Landes Brandenburg e.V. Berlin 2001, S. 363/364. Er wurde für diese Veröffentlichung mit einigen Ergänzungen und geänderten Abbildungen versehen.)
Literatur
Bilder aus der Märkischen Industrie. Festschrift zur Feier des 25jährigen Bestehens des Märkischen Bezirksvereins des Vereins deutscher Ingenieure. 1887-1912. Frankfurt a. Oder 1912.
Büsch, Otto (Hrsg.): Industrialisierung und Gewerbe im Raum Berlin/Brandenburg 1800-1850. Berlin 1971.
Carl Gottlob Wilke und die Wilkesche Hutfabrik in Guben. Im Auftrag der Firma C.G. Wilke verfasst von Johannes Trojan. o.O. 1900.
C.G. Wilke, Guben Haar-, Velour- und Wollhutfabrik Inhaber: Max und Siegfried Wilke. In: Magistrat Guben (Hrsg.): Deutschlands Städtebau. Guben. Berlin 1922, S. 47-50.
C.G. Wilke / Guben Haar-, Velour- und Wollhutfabrik. In: Stein, Erwin (Hrsg.): Monographien deutscher Städte. Band XXV Guben. Berlin 1928, S. 221-229.
Foltin, Hans Friedrich: Die Kopfbedeckung und ihre Bezeichnungen in Deutschland. Gießen 1963.
Kersten, Dr.: Die Gubener Hutindustrie. In: Stein, Erwin (Hrsg.): Monographien deutscher Städte. Band XXV Guben. Berlin 1928, S. 177-180.
Gander, Karl: Geschichte der Stadt Guben. Guben 1925.
Krönert, Gertraute/ Leibger, Heide: Tuchstädte der Niederlausitz gestern und heute. Forst, Guben, Spremberg, Finsterwalde. Dokumentarisches Auf und Ab in einem traditionsreichen Berufszweig. Cottbus 1995.
Abbildungsnachweis
Abb. 1, 3, 10 Bilder aus der Märkischen Industrie. 1912.
Abb. 2 Carl Gottlob Wilke 1900.
Abb. 4, 5, 9 Gemeinfrei.
Abb. 6-8 C. G. Wilke 1928.
Empfohlene Zitierweise
Berger, Maria: Hutfabrik C. G. Wilke, Guben, publiziert am 20.10.2023; in: Industriegeschichte Brandenburgs, URL: http://www.brandenburgikon.de (TT.MM.JJJJ)